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Christina Götting Aus Cloppenburg „Ich bin mit Anlauf in die Bulimie“

Cloppenburg - Der Tag, an dem Christina Götting sich nach dem Essen zum ersten Mal übergeben hat, ist im Kopf der 32-Jährigen eingebrannt. „Ich war 13 oder 14 Jahre alt und habe babygesittet. In dem Haus standen Süßigkeiten. Ich habe mich bedient und irgendwann diesen Druck verspürt, dass das alles wieder raus muss, dass ich mich jetzt übergeben muss.“ Es war das erste von unzähligen Malen in den folgenden fast 20 Jahren. Während der schlimmsten Phase ihrer Krankheit vor rund einem Jahr war sich die junge Frau nicht sicher, ob sie die nächsten Tage überleben wird.

Mittlerweile hat Christina Götting ihr Leben in den Griff bekommen. Dank einer Therapie geht es ihr wieder gut. Jetzt möchte sie ihre Geschichte erzählen und anderen Menschen, die ähnliche Probleme haben, helfen.

Im Gespräch mit der NWZ hat sie geschildert, warum sie mit Bulimie und Magersucht zu kämpfen hatte und wie es ihr mit ihren Essstörungen ergangen ist. Im zweiten Teil der Geschichte, der im Laufe der Woche erscheint, wird sie berichten, wie sie es geschafft hat, wieder ein geregeltes Leben zu führen.

Unbeschwerte Kindheit

„In meiner Kindheit war ich ein unbeschwertes Mädchen mit sehr guten Schulnoten “, erinnert sich Christina Götting. Als sie auf die Liebfrauenschule in Cloppenburg gekommen ist, habe sich ihr Leben aber verändert. „Keiner meiner Freunde war mehr auf meiner Schule, meine Noten wurden schlechter und die erste 4 in Erdkunde hat mich richtig runtergedrückt.“ Das sei auch in etwa der Zeitpunkt gewesen, an dem sie sich zum ersten Mal in ihrem Körper nicht mehr wohlgefühlt habe.

Ihre Gedanken hätten sich permanent darum gedreht, dass alle anderen Mädchen viel dünner seien als sie. „Dabei war ich absolut normalgewichtig.“

Ein Apfel und eine Birne

Schließlich habe sie ihr Essverhalten grundlegend geändert. „In der sechsten Klasse habe ich zum Frühstück einen Apfel und mittags eine Birne gegessen. Mit einer Freundin habe ich angefangen Sport zu machen, um abzunehmen, wir haben uns gegenseitig gepusht und aufgeschrieben, wie viel wir wiegen“, erzählt die 32-Jährige. Irgendwann sei dann der Tag gekommen, als sie sich zum ersten Mal selbst den Finger in den Hals gesteckt hat, um sich zu übergeben.

„Das ist danach aber nicht sehr häufig passiert. Die Bulimie war noch nicht stark ausgeprägt. Übergeben habe ich mich nur, wenn ich zu viel auf einmal gegessen habe.“ Gleichzeitig habe sie aber auch begonnen, magersüchtig zu werden.

„Ich habe immer Kalorien im Kopf gehabt“

„Ich habe immer wieder Diäten gemacht und permanent die Kalorien im Kopf gehabt, wenn ich etwas gegessen habe.“ Mit 15 sei sie dann, wie sie sagt, das erste Mal umgekippt. Das habe aber niemand mitbekommen. Einige Zeit später sei sie beim Shoppen mit ihrer Mutter wieder zusammengebrochen – auch das sei ohne Konsequenzen geblieben, weil die Jugendliche kurz vorher krank gewesen und die besorgte Mutter von einem Rückfall ausgegangen sei.

„Einen krassen Absturz hatte ich dann, als ich mich mit einer Freundin auf einer Party gestritten habe und zusammengebrochen bin. Da wollte ich nicht mehr leben, der Druck war zu groß und ich war in dem Moment unendlich traurig. Ich wurde dann mit einem Krankenwagen abtransportiert“, erinnert sich Christina Götting. In der Klinik in Vechta habe sie dann alles erzählt. Die Diagnose: Bulimie und Magersucht.

Nur eine kurze Hilfe

Eine Therapie, die sie nach dem Zusammenbruch begonnen habe, sei nur kurzzeitig hilfreich gewesen. „Ich habe mich eine Zeit lang nicht mehr übergeben“, berichtet die 32-Jährige, „leider nur eine Zeit lang.“

Als Jugendliche und auch nach dem Abitur im Jahr 2005 sei sie stets ein unsicherer Mensch gewesen. „Ich habe immer gedacht, dass ich nichts richtig kann und bin ziemlich planlos durchs Leben gegangen. Ich war sehr schüchtern und hatte absolut kein Selbstbewusstsein.“

Andere um ihren Lebensweg beneidet

Bewundert habe sie immer die anderen, die ihren Weg gegangen seien. Sie selbst habe sich schwer getan. „Ein Studium hat mich nicht interessiert und für eine Ausbildung konnte ich mich auch nicht entscheiden“, berichtet die 32-Jährige, die sich mit verschiedenen Jobs über Wasser gehalten hat.

„Das war aber alles andere als gut für mich, denn die Bulimie wurde schlimmer. Deshalb bin ich 2007 in Kur gegangen.“ Dort habe sie mit einer Ernährungsberaterin gesprochen, die ihr verdeutlicht hatte, was ihr lebensbedrohlicher Ernährungsstil für sie bedeutet. „Danach habe ich zum ersten Mal so richtig geweint“, erinnert sich Christina Götting.

Viele gute Veränderungen

Nach der Therapie sei in ihrem Leben viel anders gelaufen. „Ich habe eine Ausbildung zur Bürokauffrau begonnen, später auch noch meinen Betriebswirt gemacht und in der Immobilienbranche gearbeitet. Außerdem lernte ich meinen Mann kennen, den ich 2014 geheiratet habe.“ Die Bulimie sei kaum noch da gewesen. Und auch ihr Essverhalten habe sie dank einer Ernährungs-App und verschiedener Nahrungsergänzungsmittel in ihrer Wahrnehmung zum Besseren geändert.

„Das haben aber nicht alle Menschen aus meinem Umfeld so gesehen. Mein Mann, der über meine Essstörung Bescheid wusste, war mit meinem Essverhalten nicht einverstanden. Er hat sich Sorgen um mich gemacht. Wir haben uns deshalb oft gestritten, weil ich mir nicht helfen lassen wollte“, beschreibt sie ihre damalige Situation.

Heftige Streitereien

Die Auseinandersetzungen mit ihrem Mann habe sie nicht in den Griff bekommen können. Die Streitereien seien sogar immer heftiger geworden. „Und dann kam noch ein Arbeitsplatzwechsel dazu, der sehr anstrengend für mich war.“

Mitten in dieser Zeit habe das Paar entschieden, sich zu trennen. „Da bin ich dann sozusagen mit Anlauf in die Bulimie“, beschreibt Christina Götting das, was folgte: „Ich habe nur noch ans Essen gedacht. Nach der Arbeit bin ich einkaufen gefahren und habe mir für viel Geld Lebensmittel besorgt.“ Zu Hause habe sie regelrechte Fressattacken bekommen. „Ich habe mir das Essen reingeschaufelt und wieder ausgekotzt – und das mehrmals am Tag.“

Der absolute Tiefpunkt

Sie sei in einem Tunnel gewesen, beschreibt sie ihren Zustand. Im Februar des vergangenen Jahres habe sie ihren absoluten Tiefpunkt erlebt. „Weil ich das Essen, das ich mir jeden Tag reingeschaufelt habe, nicht in mir behalten wollte, habe ich Abführmittel genommen und mich permanent erbrochen. Um einen Brechreiz zu erzeugen, hat mein Finger irgendwann nicht mehr ausgereicht, ich musste die ganze Hand nehmen.“ Die Magensäure habe ihre Finger und ihre Speiseröhre angegriffen, die durch die Verletzungen sogar blutete.

Das sei einige Wochen so gegangen. „In dieser Zeit war ich völlig labil. Ich konnte nicht sagen was ich wollte, war nicht mehr selbstständig und habe nur versucht, es anderen Menschen recht zu machen. An den Wochenenden habe ich viel gefeiert und getrunken, um mich von meinen eigentlichen Problemen abzulenken“, berichtet sie weiter.

Die Angst vor dem Tod

Zu Hause habe sie sich wieder übergeben, obwohl sie sich jeden Tag fest vorgenommen hatte, damit aufzuhören. Irgendwann hatte ich dann richtige Angst, dass ich, wenn ich so weitermache, vor meiner Toilette krepiere, zum Glück habe ich mir schließlich doch noch Hilfe geholt.“

Hier lesen Sie den zweiten Teil der Geschichte von Christina Götting.

Wolfgang Alexander Meyer
Wolfgang Alexander Meyer Redaktion Oldenburg
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