Washington/Dallas - Die 48-jährige Natalie Prior aus Dallas (Texas) steht stellvertretend für Millionen US-Bürger, die erstmals in ihrem Leben ein neues Phänomen erleben: Hunger. Prior, die früher im Bereich der medizinischen Buchhaltung arbeitete, verlor aufgrund der Corona-Krise zunächst ihren Job. Dann konnte sie die Miete nicht mehr zahlen und wurde mit nur kurzer Vorwarnung das Opfer einer Zwangsräumung.
Obdachlosigkeit droht
Die vorerst letzte Station ist ein billiges Motel, auf dessen Fluren Drogendealer ihre Geschäfte abwickeln. Das Zimmer zahlt sie mithilfe von Spenden von Verwandten und Freunden – doch begleitet wird dies von der Furcht, irgendwann im Auto leben zu müssen. „Ich habe seit 24 Stunden nichts mehr gegessen“, sagt sie im Gespräch. Ein soziales Netz, das sie auffangen könnte, existiert für die Frau nicht.
Also bleibt Natalie Prior nur der Weg zur „Food Bank“ – einer Ausgabestelle für Bedürftige, die kostenlos Konserven, frisches Obst und Getränke verteilt und derzeit sogar Truthähne in ihr Angebot aufgenommen hat. Quer durch die USA erleben diese Stellen einen Ansturm, wie ihn die Nation seit der „Great Depression“ vor fast 100 Jahren nicht erlebt hat. In Dallas bilden sich zu den Öffnungszeiten der „Food Bank“ regelmäßig vier- bis fünfspurige Autoschlangen mit bis zu zehnstündigen Wartezeiten.
30 Millionen Menschen, so offizielle Schätzungen, sind derzeit ohne Einkommen – und viele von ihnen richten täglich neue Appelle über Twitter an die Politiker in Washington, endlich ein neues Pandemie-Hilfspaket aufzulegen. Doch die Republikaner und Demokraten sind weiter in dieser Frage zerstritten, und ausgerechnet vor dem „Thanksgiving“-Feiertag und Weihnachten ist bisher kein Durchbruch in Sicht.
Dramatische Folgen
Die Folgen sind atemberaubend für eines der reichsten Länder in der Welt. Eine Umfrage des Zensus-Büros ergab jetzt, dass zwölf Prozent aller Haushalte mit Kindern momentan nicht genug Lebensmittel zur Verfügung haben. Die „Feeding America“-Organisation, das nationale Netzwerk der „Food Banks“, schätzt sogar, dass bis zum Jahresende über 50 Millionen Menschen in den USA an Hunger leiden werden. In den Ausgabestellen werden derzeit die Vorräte knapp.