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Versorgung in der Energiekrise Wie sich EWE auf dem Weltmarkt mit Erdgas eindeckt

Volker Kühn
Schon vor dem 24. Februar füllten sich die Gasspeicher nicht mehr wie gewohnt. Die Ausschläge auf den Monitoren der EWE-Händler nahmen zu. Unser Archivbild zeigt die Speicheranlage im niedersächsischen Etzel.

Schon vor dem 24. Februar füllten sich die Gasspeicher nicht mehr wie gewohnt. Die Ausschläge auf den Monitoren der EWE-Händler nahmen zu. Unser Archivbild zeigt die Speicheranlage im niedersächsischen Etzel.

dpa/Wagner

Oldenburg/Bremen - Über die Bildschirme der Gashändler von EWE Trading in Bremen flirren Hunderte von Zahlen in Dutzenden von Zeilen und Spalten. Manche sind im Plus, vor anderen steht ein Minus, daneben weisen Pfeile nach oben, unten oder zur Seite. Alle paar Augenblicke blinkt ein Kästchen rot auf und die Zahlen ändern sich. Dann hat irgendwo auf der Welt ein Händler zugeschlagen und eine Charge Erdgas wechselt den Besitzer.

Dieses Zahlengewitter im Auge zu behalten, ist schon in normalen Zeiten nicht einfach. Es braucht Routine und Nerven, um zu erkennen, wann es sich lohnt, einen Kauf oder Verkauf zu tätigen. Ein falscher Klick könnte teuer werden.

Russland und das Beben auf dem Energiemarkt

Doch die Zeiten sind nicht normal. Der russische Überfall auf die Ukraine hat wie ein Erdbeben Schockwellen durch den Energiemarkt gejagt. Die Handelssoftware auf den Monitoren der EWE-Händler erfasst die Erschütterungen ähnlich einer Richterskala. Nicht mit einer Nadel, die weit ausschlagen würde, sondern in immer extremeren Preisen und einem immer wilderen Takt, in dem Kästchen rot aufblinken.

Begonnen hat das Beben nicht erst am 24. Februar, als die ersten Panzer in die Ukraine rollten, sondern bereits im vergangenen Sommer. Seit Gazprom die Lieferungen drosselte und sich die Speicher in Europa nicht mehr wie für die Jahreszeit üblich füllten, nahmen die Ausschläge zu.

„Unsere Arbeit ist anspruchsvoller geworden“

Dass es sich um Kriegsvorbereitungen handelte, ahnten wohl die Wenigsten. Dass sich etwas gravierend veränderte, war für Energieexperten aber klar. „Unsere Arbeit ist seither deutlich anspruchsvoller geworden“, sagt Feridoun Kademi, Leiter des Bereichs Trading und Portfoliomanagement bei EWE Trading. „Man weiß am Feierabend definitiv, was man den Tag über getan hat.“


Zu Kademis Team am sogenannten Gashandelsdesk gehören 14 Personen. Darunter sind etwa Sales Trader und Portfoliomanager, die Abschlüsse am Markt tätigen, Gewerbekunden beim Gaseinkauf beraten oder sich um langfristige Gasbezugsverträge kümmern. Gas ist aber nicht das einzige Geschäftsfeld der EWE-Tochter. Sie kauft und verkauft auch Strom und CO2-Zertifikate und bewirtschaftet die Kraftwerke des Konzerns. Gehandelt wird in unterschiedlichen Zeitintervallen. Soll die Energie am selben Tag geliefert werden, ist vom „Intraday“-Handel die Rede. „Day-Ahead“ bezeichnet Lieferungen am Folgetag und „Futures“ Lieferungen in der späteren Zukunft. „Wir sorgen dafür, dass unsere Privat- und Geschäftskunden zu jeder Zeit genügend Elektronen, also Strom, und Moleküle, also Gas, bekommen“, fasst Geschäftsführer Sven Orlowski die Aufgabe zusammen.

„Hört doch auf, euch grundlos zu bereichern!“

Insgesamt beschäftigt EWE Trading rund 100 Mitarbeitende. Kein Bereich steht seit Kriegsbeginn allerdings so im Fokus wie der Gashandel. Die gesamte Branche hat die Preise für ihre Endkunden angezogen, zum Teil drastisch. Bei EWE fielen die Erhöhungen noch vergleichsweise moderat aus.

Manche Kunden vermuten hinter den steigenden Abschlägen Preistreiberei. „Hört doch auf, euch völlig grundlos an uns zu bereichern“ – solche Kommentare erreichen den Konzern in den sozialen Medien. EWE-Chef Stefan Dohler sah sich sogar veranlasst, in einem Video auf Youtube darauf zu reagieren. Von Bereicherung könne keine Rede sein, im Gegenteil: „In unserem Gasvertrieb machen wir gerade massive Verluste, weil wir die weggefallenen russischen Importmengen am Markt für das Zehnfache der ursprünglichen Preise beschaffen müssen“, sagte er. Bestandskunden erhielten das Gas aber weiterhin zu den zugesagten Preisen. Zugleich müsse EWE als Grundversorger viele neue Kunden beliefern, deren vorige Anbieter die Preise massiv erhöht hatten.

Die Händler wählen ihre Lieferanten gezielt aus

Dieser Kundenzustrom und der Lieferausfall aus Russland haben die bisherige Strategie von EWE Trading umgeworfen. Das Unternehmen habe stets möglichst langfristig Energie eingekauft, um den Kunden trotz aller kurzfristigen Schwankungen stabile Preise garantieren zu können, sagt Geschäftsführer Orlowski. Dabei habe man das Risiko so gut wie möglich gestreut. „Wir achten sehr darauf, von wem wir kaufen, und dass kein Lieferant einen zu großen Anteil hat. Damit wappnen wir uns gegen Ausfälle einzelner Lieferanten.“ Es gehe darum, Klumpenrisiken zu vermeiden.

Doch die Tausenden von Neukunden zwingen EWE dazu, verstärkt kurzfristig an der extrem volatilen Energiebörse zu kaufen. „Die Preisschwankungen haben sich zwischenzeitlich verzwanzig- oder sogar verdreißigfacht“, sagt Kademi. Befeuert werden diese Schwankungen nicht allein durch das Geschehen in Europa, denn der Gashandel ist global vernetzt. Wird der Winter in Asien streng oder mild? Verhängt China weitere Lockdowns, die den Gasbedarf der Fabriken dämpfen? Wohin verschiffen die USA und Australien ihr LNG? Wie entwickelt sich der Kurs des Euro zum Dollar? All das beeinflusst die Preise.

Der Geschäftsführer appelliert an die Kunden: Wir müssen sparen!

Erst in den jüngsten Wochen, seit sich die Speicher in Europa füllen und Verbraucher und Industrie ihren Verbrauch drosseln, gehen die Ausschläge und die Preise zurück. Zur Beruhigung vieler Verbraucher dürfte daneben die vom Bund beschlossene Gaspreisbremse beigetragen haben.

Orlowski warnt allerdings davor, die Gasheizung nun bedenkenlos aufzudrehen. Denn die Preise liegen weiterhin deutlich über dem Vorkriegsniveau. Der Bau von LNG-Terminals wie in Wilhelmshaven helfe zwar ein Stück weit, die Lage zu entspannen, den eigentlichen Hebel sieht er allerdings woanders: im Sparen. „Wir müssen unseren Verbrauch dringend einschränken, Privatleute genauso wie die Unternehmen“, sagt Orlowski. Vor allem Haushalte mit geringem Einkommen müssten zudem unterstützt werden. Niemand solle frieren, aber grundsätzlich gelte die Formel: „Pulli statt Putin.“

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