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Betroffener Berichtet In Wilhelmshaven Er gibt Missbrauchsopfern eine Stimme

Wilhelmshaven - Endlich drüber reden. Die Scham überwinden, dem Grauen einen Namen geben. Bei Markus Elstner hat es Jahrzehnte gedauert, bis er über das, was ihm ein katholischer Priester als Kind angetan hat, sprechen konnte.

2010 hat der heute 52-Jährige das Schweigen zum ersten Mal gebrochen. Zuhause, vor dem Spiegel, im Dunklen sagte er zum ersten Mal: „Ich bin sexuell missbraucht worden.“ Noch heute merkt man ihm beim Gespräch in Wilhelmshaven an, dass diese Worte Kraft kosten. Aber inzwischen weiß er, wie wichtig es ist, über das Erlebte zu reden. Nicht nur für ihn selbst, sondern für alle anderen Opfer von sexuellem Missbrauch. Nur so lässt sich die Macht der Täter brechen.

Was unter dem Deckmantel der katholischen Kirche vonstatten gegangen ist, lässt sich nur erahnen. Nach einer von der Deutschen Bischofskonferenz in Auftrag gegebenen Studie hatten zwischen 1946 und 2014 in Deutschland mindestens 1670 katholische Geistliche 3677 meist männliche Minderjährige missbraucht. Dies sei aber nur die nachweisbare „Spitze des Eisbergs“, sagte der Studienleiter Harald Dreßing. Da ist sich auch Markus Elstner sicher.

Enttäuscht von Politik

Wie geht es ihm als Betroffenem jetzt, nachdem das schockierende Ausmaß des Missbrauchskandals endlich in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird? Klar, das sei schön, dass über das Thema gesprochen werde. Vor allem aber ist er enttäuscht: „Die Studie ist nicht zufriedenstellend. Schulen, Internate, Chöre sind überhaupt nicht mit einbezogen. Die eigentliche Zahl der Opfer geht in die Hunderttausende.“ Die Veröffentlichung der Ergebnisse und die anschließende Berichterstattung hat er minuziös im Fernsehen und im Internet verfolgt. Was Kardinal Reinhard Marx und Bischof Stephan Ackermann von sich gaben, sah für ihn aus „wie Theater“, von ehrlichem Bemühen um Offenheit, Aufklärung oder gar Aufarbeitung weit entfernt. Besonders geärgert hat Elstner und seine Verlobte Andrea Fink, dass keine Reaktion aus der Politik gekommen ist. „Wir hatten auf ein Statement von der Bundeskanzlerin gehofft“, sagt Andrea Fink. Das wäre bei dem Ausmaß des Skandals ja wohl angemessen gewesen.

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Andrea Fink ist in das Engagement gegen Missbrauch und für die Opfer eingestiegen, als sie Markus Elstner vor knapp eineinhalb Jahren auf der Internet-Fanseite des Sängers Joachim Witt kennengelernt hat. „Mir gegenüber hat er von Anfang an keinen Hehl daraus gemacht, was ihm passiert ist.“ Die Offenheit bringt Nähe. Im April bittet der Bottroper seine Andrea bei einem Konzert vom gemeinsamen Lieblingssänger in Bochum auf die Bühne und macht ihr zu dem Lied „Mein Diamant“ einen Heiratsantrag. „Es kann keiner sehen, kaum einer verstehen. Es blutet so sehr und nichts wiegt so schwer“, heißt es in dem Stück.

Notsituation ausgenutzt

Bis zu diesem Gänsehaut-Moment lag hinter dem Paar „ein sehr intensives Jahr“, sagt Fink. Ihr Zukünftiger hat ihr all das anvertraut, was er als Missbrauchsopfer bis an sein Lebensende mit sich herumtragen wird, woraus es bei aller Liebe kein Entkommen gibt. Als elfjähriger Messdiener wurde er von einem Kaplan schwer missbraucht. Der charismatische Geistliche, der in der Gemeinde Ansehen genoss, nutzte eine familiäre Krisensituation aus. Er rief bei der Mutter an und spielte sich als väterlicher Freund auf, der den lieben Markus netterweise bei sich übernachten lässt. Die Mutter willigte ein, hat ein gutes Gefühl dabei, ihren Sohn in die Obhut des Kirchenmannes zu geben.


Der Geistliche machte den Jungen mit Alkohol gefügig – und mit Geld. Das Kind kaufte davon Teile für sein Bonanza-Fahrrad und ein Skateboard, auf dem der Schriftzug „Alien“ klebte. Der gleichnamige Film war damals gerade aktuell. Das Skateboard hat Markus Elstner heute noch. Das Gefühl des Außenseiter-Daseins wird er nicht los. „Ich war nicht aufgeklärt, wusste nicht, was richtig und was falsch ist. Zugleich hatte ich Schuldgefühle, weil ich ja das Geld genommen habe“, beschreibt Elstner.

Etwa ein halbes Jahr lang musste Markus Elstner die widerwärtigen Besuche bei dem Kaplan absolvieren, dann wird der Kirchenmann stillschweigend versetzt und vergeht sich an anderen Minderjährigen. Über Peter H., Markus Elstner nennt ihn „mein Täter“, steht im Internet viel geschrieben im Zusammenhang mit Missbrauch. Verantworten musste er sich für das, was er ihm angetan hat, bisher nicht. Denn als Elstner nach 33 Jahren den Mut und die Kraft für eine Anzeige fand, war die Tat verjährt.

Elstner erinnert sich noch genau an den Moment, als das jahrzehntelange Verdrängen ein Ende fand: „Eines Tages tauchte im Fernseher plötzlich mein Täter auf dem Bildschirm auf“, erzählt er. „Sofort war alles wieder da.“ So wie ihm geht es sehr vielen Opfern. Eine Schlüsselsituation löst einen „Flashback“ aus.

Leben nicht im Griff

Der Bottroper vertraut sich zunächst seiner Therapeutin an. Bei der war er in Behandlung, weil er sein Leben eigentlich nie richtig in den Griff bekommen hat. „Das war ein Trümmerhaufen.“ Die Ausbildungen als Installateur und Dachdecker abgebrochen, immer nur Gelegenheitsjobs, gescheiterte Beziehungen, den Führerschein nie geschafft. „Ich konnte nie mit Druck umgehen, war extrem dünnhäutig.“ Hinzu kamen Kleinkriminalität, Alkohol, Tabletten. „Ich habe mir daran lange selbst die Schuld gegeben.“

Nach dem Totalzusammenbruch durch das TV-Erlebnis erzählte er auch seiner älteren Schwester und seiner Mutter von seinem Trauma aus Kindertagen, und realisierte, dass er nur mit Reden weiterkommt. Er gründete in Bottrop eine Selbsthilfegruppe, zunächst nur für männliche Opfer, mittlerweile sind auch Frauen dabei.

Viele Projekte gegen Missbrauch

Hände gegen Missbrauch – eine 38 Kilometer lange Bilderschlange soll symbolisieren: „Das Gesetz hat keine Augen – es braucht ein Herz und viele Hände“. Bundesweit sammelt Markus Elstner bei Projekttagen die Handabdrücke, vor allem, um mit anderen Menschen über das Thema Missbrauch ins Gespräch zu kommen. Sind die 135 000 benötigten Handabdrücke beisammen, soll das dann längst Bild der Welt in Berlin ausgelegt werden und die Wichtigkeit des Themas hervorheben. Wer mitmachen möchte, kann mit Elstner unter Tel. 0157/57069335 oder über Facebook Kontakt aufnehmen.

Die Selbsthilfegruppe „Wegweiser“ hat Elstner in Bottrop ins Leben gerufen. In Wilhelmshaven plant er eine Gruppe, in der nicht nur die Betroffenen selbst, sondern auch die Angehörigen Unterstützung finden.

Das Plakat „Zeitreise“ aus ganz vielen Kinderbildern verleiht der Forderung nach Abschaffung der Verjährungsfristen Ausdruck. Es trägt unter anderem die Aufschrift „Zeit heilt nicht alle Wunden“.

Eine Großveranstaltung mit Musik und viel Programm für Kinder organisiert Markus Elster einmal im Jahr in Bottrop. Entsprechendes möchte er in Wilhelmshaven auf die Beine stellen. Dahinter steht die Hoffnung, dass die UNESCO-Kommission einen „Welttag für Betroffene sexuellen Missbrauchs“ ins Leben ruft.

Der Prävention von sexuellem Missbrauch dient die Ausstellung „Echt mein Recht“ des Kieler Instituts für Gewaltprävention „Petze“. Sie richtet sich an Menschen mit Lernschwierigkeiten. Die Vorbereitungen laufen, die Ausstellung nach Wilhelmshaven zu holen.

Kernforderung seines Engagements für Missbrauchsopfer ist die komplette Abschaffung von Verjährungsfristen. „Ich möchte als Betroffener das Recht haben, gegen meinen Täter vorzugehen“, sagt Elstner. Für den sexuellen Missbrauch von Kindern sieht das Strafgesetzbuch (StGB) Freiheitsstrafen zwischen sechs Monaten und zehn Jahren vor, in besonders schweren Fällen drohen sogar 15 Jahre Haft. Eine strafrechtliche Verfolgung ist allerdings nur bis zum Ablauf der Verjährungsfrist möglich. Missbrauchsfälle verjähren grundsätzlich nach fünf bis 30 Jahren – abhängig von der Schwere der Tat. Bei sexuellen Übergriffen beginnt diese Verjährungsfrist seit einiger Zeit erst mit dem 30. Geburtstag des Opfers – es sei denn, die Tat war bereits vor dieser Gesetzänderung verjährt, die erst Anfang 2015 in Kraft getreten war.

Besuch auf Hankenhof

Das war bei Markus Elstner der Fall. Im März 2010 bekam er von der Staatsanwaltschaft in Essen ein Schreiben, in dem der Staatsanwalt bedauert, dass er die Ermittlungen wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen „leider nicht fort führen darf“, auch wenn angesichts des „angezeigten Vertrauensbruches eine endgültige Sachaufklärung wünschenswert gewesen wäre“. Ein Schlag in die Magengrube, von dem Markus Elstner sich aber nicht entmutigen ließ. Im Gegenteil. Mit viel Engagement und prominenter Unterstützung setzt er sich dafür ein, dass dieses Debakel anderen Missbrauchsopfern erspart bleibt, wenn sie sich nach vielen Jahren endlich trauen, gegen ihre Peiniger vorzugehen.

Wie weit verbreitet das Problem sexueller Missbrauch ist, haben Elstner und seine Verlobte auch gemerkt, als sie auf dem Hof von Carmen Hanken, der Frau des 2016 verstorbenen „XXL-Ostfriesen“ und Pferdeflüsterers Tamme Hanken, in Filsum zu Gast waren, um Handabdrücke für ihr Präventionsprojekt zu sammeln (siehe Infokasten). „Gerade im ländlichen Raum ist das ein großes Thema.“ Oft habe er gehört: „Das ist mir auch passiert“ und gemerkt, wie froh Betroffene sind, das endlich mal aussprechen zu können. Wie schwierig es ist, professionelle therapeutische Begleitung zu bekommen, weiß er aus eigener Erfahrung. Trotzdem rät er, den Weg aus dem schamvollen Schweigen zu suchen. Hilfe gibt es hier.

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Dr. Irmela Herold
Dr. Irmela Herold Online-Redaktion
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