Die Bundesliga hat den Spielbetrieb ausgesetzt, möglicherweise wird es 2020 keinen deutschen Meister geben. Statistik-Freaks erinnern bei dem Thema sofort an das Jahr 1922. Was war damals los?

Manuel NeukirchnerDamals gab es – unter völlig anderen Umständen – keinen deutschen Meister. Im Finale in Berlin standen sich der 1. FC Nürnberg und der Hamburger SV gegenüber. Nach mehr als drei Stunden musste das Spiel, das sich schon lange in der Verlängerung befand, beim Stand von 2:2 wegen Dunkelheit abgebrochen werden. Es gab damals noch kein Elfmeterschießen.

Wie ging’s weiter?

NeukirchnerSieben Wochen später gab es in Leipzig ein Wiederholungsspiel. Diese große Zeitspanne benötigte man, weil die Spieler das mit ihren Arbeitgebern klären mussten. Auch war die Art des Reisens noch eine andere. Das Wiederholungsspiel ging auch in die Verlängerung. Beim Stand von 1:1 brach der Schiedsrichter Peco Bauwens, der nach dem Zweiten Weltkrieg übrigens DFB-Präsident wurde, die Partie ab. Bei den Nürnbergern waren mehrere Spieler verletzt oder vom Platz gestellt worden, so dass nur noch sieben Mann spielen konnten. Das waren zu wenig.

Schalke-Sympathisant in Dortmund tätig

Manuel Neukirchner (52) leitet als Gründungsdirektor das 2015 in Dortmund eröffnete Deutsche Fußballmuseum. Er ist Fan seines Heimatvereins und Kreisligisten Fortuna Essen-Bredeney und von Kindheit an großer Bewunderer der Schalker Mittelstürmer-Legende Klaus Fischer. Carsten Kobow

Und warum gab es dann keinen deutschen Meister?

NeukirchnerBauwens brach das Spiel in der Halbzeit der Verlängerung ab. Das hätte er nicht tun sollen, er hätte es laut Reglement nach der Pause erst wieder an- und dann sofort abpfeifen müssen. Heutzutage ließe sich das alles in Sekundenschnelle klären und der Schiedsrichter würde entsprechend informiert werden. Aber vor knapp 100 Jahren war das noch nicht möglich. Der DFB sprach zunächst dem HSV den Titel zu, weil die Nürnberger ja nicht mehr spielen konnten beziehungsweise durften. Die Hamburger verzichteten aber wegen der unklaren Umstände auf den Titel. Später hieß es auch, der HSV sei vom DFB zum Verzicht gedrängt worden.

Das Ganze passierte mehr als 40 Jahre vor Gründung der Bundesliga. Welche Bedeutung hatte der Fußball damals in Deutschland?

NeukirchnerWährend des Ersten Weltkriegs war die Bedeutung deutlich gewachsen. Viele Männer hatten als Soldaten Kontakt mit diesem Sport und fanden Gefallen daran. So kam es, dass nach dem Krieg auch die Mitgliedszahlen im DFB deutlich anstiegen. Auch das Interesse wuchs. 1922 kamen zum Finale und zum späteren Wiederholungsspiel 30 000 und 50 000 Zuschauer.

Wie sah es mit dem Fußball im Ersten Weltkrieg aus?

Neukirchner Die deutsche Meisterschaft 1914/15 wurde schnell abgesagt. Fußball hatte im Alltag der Menschen nicht den Stellenwert wie heute. Erst 1919/20 wurde wieder ein Meister ausgespielt. Im Zweiten Weltkrieg war das wegen der inzwischen gestiegenen Bedeutung anders.

Wie lief der Spielbetrieb denn damals ab?

NeukirchnerBei Kriegsausbruch 1939 wurde der reguläre Spielbetrieb zunächst eingestellt. Es folgte aber die Kriegsmeisterschaft, bei der zum Teil in einem anderen Modus und in einer größeren Anzahl an Staffeln gespielt wurde. Bis Mitte 1944 wurde so jährlich noch ein Meister ermittelt. Die Spiele wurden unter schwierigen Bedingungen ausgetragen, oft mussten sie auch ausfallen. Es herrschte Treibstoffmangel, so dass Mannschaften nicht anreisen konnten. Oder Spieler mussten an die Front. Oder es gab kein geeignetes Feld oder Stadion mehr. Aber das Nazi-Regime wollte mit dieser Meisterschaft so etwas wie Normalität suggerieren. Der Fußball war Mittel der Propaganda. Es sollte demonstriert werden, dass der Krieg eben nicht den kompletten Alltag veränderte. Fußball diente einerseits der Ablenkung und sollte andererseits zeigen, dass das Leben scheinbar normal weiterging.

2020 sind die Umstände – Stichwort Corona – völlig andere. Aber auch heute wird emotional über einen möglichen Abbruch der Bundesligasaison oder eine Fortsetzung mit Geisterspielen diskutiert. Warum ist Fußball so wichtig?

NeukirchnerDie Menschen sehnen sich in dieser Extremsituation plötzlich wieder nach Alltäglichkeit, nach Routine. Für viele ist Fußball das letzte Paradies im Alltagsleben, aus dem sie sich nicht vertreiben lassen wollen. In die Stadien pilgern, die heimischen Fußballplätze besuchen oder selbst spielen auf den unzähligen Plätzen unserer Republik und dann, quasi als Verlängerung, „Sky“ oder die „Sportschau“ gucken. Wenn auch der Fußball als universelle Sprache unserer Welt verstummt, wissen wir alle – jetzt ist es wirklich ernst.

Hauke Richters
Hauke Richters Sportredaktion (Leitung)