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Kritik An Chinesischer App Warum bei „Tiktok“ nicht alles Tipptopp ist

Oldenburg - Es ist das am schnellsten wachsende soziale Netzwerk der Welt: Die App „Tiktok“ fehlt heute auf kaum einem Smartphone von Menschen unter 25, besonders von Mädchen und jungen Frauen. Eine Milliarde Nutzer, ungefähr so viel wie Instagram, soll die Video-Plattform weltweit schon haben, davon über fünf Millionen in Deutschland. Und auch die Tagesschau mischt mit einem eigenen Profil mit. Auf einer Plattform, die – zumindest bis vor kurzem – Beiträge der Proteste in Hongkong oder von übergewichtigen, behinderten und homosexuellen Menschen systematisch unterdrückt hat.

„Tiktok“ kennen manche Großeltern und Eltern vielleicht eher als „Musical.ly“. Bis August 2018 tummelte sich die jugendliche Zielgruppe auf der App, lud kurze Playback-Videos hoch: Zu Popmusik-Klängen bewegten junge Leute ihre Lippen und tanzten dazu. Die Erfolgsstory von „Musical.ly“, das weltweit bis zu 200 Millionen Nutzer im Monat verzeichnete, endete wohl auch wegen Vorwürfen, Pädophile würden die App nutzen, um Jugendliche zu sexuell eindeutigen Posen zu verleiten. Im November 2017 kaufte das chinesische Unternehmen Bytedance „Musical.ly“ für circa eine Milliarde Dollar, um es knapp ein Jahr später in „Tiktok“ umzubenennen und an seine chinesische Zwillingsapp „Douyin“ anzupassen.

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Eine Milliarde für Facebook-Werbung

Das Angebot der App sollte um Schönheit und Styling, Reisen und Sport ergänzt werden, die App über China hinaus global wachsen: Dafür war Bytedance auch bereit, tief in die Tasche zu greifen. Rund eine Milliarde Euro soll das Unternehmen laut der britischen Tageszeitung „The Guardian“ für „Tiktok“-Werbung bei Facebook ausgegeben haben – offensichtlich mit Erfolg: Nur noch ungefähr die Hälfte der weltweit eine Milliarde Nutzer von „Tiktok“ bzw. „Douyin“ kommt aus China.

So sieht die App auf dem Smartphone aus. Bild: Imago

So sieht die App auf dem Smartphone aus. Bild: Imago

Anstößige Inhalte – also auch solche, die im Grenzbereich zur Pädophilie stehen – kündigte Bytedance an, würden dank technischer Hilfe besser herausgefiltert. Doch was sehen die Chinesen als anstößig an? Im September diesen Jahres fand „The Guardian“ anhand von Moderationsrichtlinien des Unternehmens heraus, dass Videos, in denen es um die Proteste auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking 1989 oder um die Unabhängigkeit Tibets ging, bei „Tiktok“ zensiert würden. Die US-amerikanische „Washington Post“ stellte zur selben Zeit fest, dass unter dem Hashtag #hongkong hauptsächlich Bilder von singenden Menschen oder in Szene gesetzten Speisen zu sehen seien. Von antichinesischen Protesten keine Spur.

Zensur, ohne Inhalte zu löschen

Auch die Nachrichtenseite zu Internetthemen, netzpolitik.org, setzte sich jüngst mit den Moderationsrichtlinien von „Tiktok“ auseinander und sprach zusätzlich mit einer Person, die Zugang zum Berliner Moderationsteam von „Tiktok“ haben soll. Die Recherchen der Seite ergaben, dass Inhalte in einem mehrstufigen Prüfsystem in sechs Kategorien einsortiert werden, die bestimmten, wie vielen Nutzern die Videos in der App gezeigt werden: Manche würden besonders bevorzugt behandelt, andere wären in ihrer Reichweite beschränkt, so dass einige sogar nur für den Ersteller selbst sichtbar wären. Mit dieser Taktik zensiert das Unternehmen Inhalte, ohne sie löschen zu müssen (wobei auch das im Zug der Moderation möglich ist).

Durch die Behinderung kritischer Inhalte und die Förderung gewünschter Narrative nimmt „Tiktok“ bzw. vermutlich mittelbar die chinesische Regierung gezielt Einfluss auf die Wahrnehmung der Proteste in Hongkong: „Dort wird versucht, die Protestierenden als verwöhnte Weicheier dastehen zu lassen, die sich jetzt aufregen, weil sie ,mal richtig arbeiten‘ müssen“, sagt der Verfassungsrechtler Prof. Volker Boehme-Neßler, der an der Uni Oldenburg den Einfluss von Internet und Digitalisierung auf Demokratie und Verfassung untersucht. Solche Geschichten könnten am Ende auch ein militärisches Eingreifen legitimieren.

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Viel Zeit sollen die „Tiktok“-Mitarbeiter für die Überprüfung nicht haben: Von knapp 30 Sekunden pro Video ist die Rede. In die Tiefe können sie daher gar nicht gehen – und so rutscht dann auch ein Video wie das der 17-jährigen Feroza Aziz aus New Jersey durch. Das Mädchen lud im November ein Video hoch, in dem es sich die Wimpern mit einer Wimpernzange biegt, währenddessen aber anfängt, über die Situation der Uiguren in chinesischen Internierungslagern zu erzählen. Einen Tag später wurde ihr Profil – offiziell aus einem anderen Grund – gesperrt und das Video kurzfristig gelöscht. Erst nachdem die Nachricht um die Welt ging, auch weil Feroza Aziz ihre Geschichte auf Twitter erzählte, gab „Tiktok“ ihr das Profil zurück. Das Video hat allein auf der Plattform inzwischen weit über zwei Millionen Aufrufe.

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Bytedance passt Moderationsregeln an

Mittlerweile hat das Unternehmen diskriminierende Moderationsregeln eingeräumt, angeblich hätten sie ohnehin nur „in einer frühen Phase“ gegolten. Die Quelle von netzpolitik.org hingegen sagt, die Regeln seien noch im September zur Anwendung gekommen. Vor der Änderung, wann auch immer sie stattgefunden hat, hätten sie Kritik an politischen Systemen generell sowie Darstellung von „Protesten, Ausschreitungen oder Demonstrationen“ ausgeschlossen bzw. ausgebremst.

Doch auch die Sichtbarkeit der Inhalte behinderter oder homosexueller Menschen sei nach den Recherchen von netzpolitik.org eingeschränkt gewesen. Einige seien auf einer Liste für „besondere Nutzer“ gelandet, deren Videos automatisch in ihrer Reichweite gedeckelt gewesen seien. Die Beiträge anderer Nutzer mit Behinderungen seien lediglich im eigenen Land sichtbar gewesen. Mittlerweile sind zumindest Videos behinderter Nutzer außerhalb Deutschlands für deutsche Nutzer wieder zu sehen, und die Abspielzahlen lassen zumindest keine Deckelung mehr vermuten.

Den Grund für den zwischenzeitlichen Ausschluss von Minderheiten lieferte vor einigen Tagen ein Firmensprecher: „Als Reaktion auf eine Zunahme von Mobbing in der App haben wir frühzeitig eine unbeholfene [...] Regelung umgesetzt.“ Um behinderte und homosexuelle Menschen vor Mobbing zu schützen, hat man sie kurzerhand mundtot und unsichtbar gemacht.

„Douyin“ ist „Tiktoks“ chinesische Zwillingsapp

„Tiktok“ reagiert offensichtlich auf die Empörung in westlichen Medien. Bytedance kann es sich erlauben, im nicht-chinesischen Ausland die Zensur-Zügel lockerer zu lassen. Mit „Douyin“ hat „Tiktok“ einen Zwilling in China, die aber nicht miteinander verbunden sind, lediglich dieselbe Optik nutzen. So kann die chinesische Regierung weiterhin Einfluss auf und Kontrolle über die Inhalte der App im Inland behalten. Denn dass sie zumindest bei chinesischen Apps, wie dem alldurchdringenden „WeChat“ – eine Art Messenger und soziales Netzwerk mit Bezahlfunktion – mitliest und fleißig Daten sammelt, gilt als kein Geheimnis mehr.

Dennoch bleibt „Tiktok“ eine Erfolgsstory, auch in Deutschland: Promis wie Popsänger Mark Forster oder Komiker Chris Tall machen mit, Fußballvereine wie Borussia Dortmund – und eben auch die Tagesschau, Werbekunden wie McDonald’s springen auf. Die Videos sind bunt, vermitteln gute Laune, bei „Tiktok“ läuft’s tipptopp. Auch der Ausstieg von der Zwillinge „Lisa und Lena“ hat da nichts geändert. Die mit über 30 Millionen Followern zeitweise erfolgreichsten „Tiktok“-Nutzerinnen der Welt haben ihr Profil im April dieses Jahres gelöscht: „Viele Leute posten einfach unüberlegt und wissen gar nicht, wer das alles sieht“, sagte die 16-jährige Lisa damals.

Christian Schwarz
Christian Schwarz Online-Redaktion
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