Oldenburg - Herr Wölken, ein Blick auf ihr Twitter-Profil hat mir bereits einen Einblick in Ihre heutige Tagesplanung gegeben: Neben diesem Interview stand für Sie ein Schulbesuch an, Sie bereiten sich auf eine Diskussion am 21.8. bei der Gamescom in Köln vor, und Sie haben Kaffee getrunken. Welche Schule haben Sie denn besucht und warum?

Tiemo Wölken: Eine Grundschule in Ibbenbüren, in Nordrhein-Westfalen. Da ist die diesjährige Ferienbetreuung für alle Grundschüler aus dem Kreis Steinfurt. Ich habe mit den Kindern über Europa gesprochen. Das war faszinierend, wie viel Bewusstsein schon für das Thema da war. Wir haben uns gefragt: Warum gibt es eigentlich die Europäische Union? Und haben herausgearbeitet, dass es wichtig und besser ist, bei bestimmten Themen zusammenzuarbeiten. Da kam als Erstes der Bereich Handel – das war ja auch der Urgedanke –, schon das zweite Thema war aber Umwelt- und Klimaschutz. Für mich war es ein außergewöhnlicher Schulbesuch.

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In der ZDF-Sendung „Lass dich überwachen! – Die Prism Is A Dancer Show“ kramt das Team von Moderator Jan Böhmermann alles Mögliche hervor, das die Zuschauer zum Teil vor langer Zeit von sich im Internet veröffentlicht haben – und was ihnen vor dem Fernsehpublikum nun ziemlich peinlich ist. Was ist das Peinlichste, das es im Netz von Ihnen zu entdecken gibt?

Tiemo Wölken: Boah – keine Ahnung (lacht). Der Reiz der Sendung ist ja auch, dass Menschen gar nicht erahnen, was sie irgendwann irgendwo mal gepostet haben. Hm, vielleicht etwas aus Schulzeiten, als ich Internetzugang nur in der Schule während der Internet-AG hatte…

Tiemo Wölken

Der 33-Jährige (*5.12.1985 in Otterndorf) hat Rechtswissenschaften in Osnabrück studiert und ist seit 2004 Mitglied der SPD. Im November 2016 rückte er für den Bezirk Weser-Ems in das Europäische Parlament nach. Als Mitglied und rechtspolitischer Sprecher der Sozialdemokratischen Fraktion im Rechtsausschuss, sowie im Ausschuss für Umweltfragen, öffentliche Gesundheit und Lebensmittelsicherheit setzt sich Tiemo Wölken eigenen Angaben zufolge insbesondere für eine nachhaltige Klimapolitik und europäische Rechtsstandards ein. Einen Schwerpunkt setzt er insbesondere auf die Digitalpolitik. Er wohnt in Osnabrück.

Sie haben etwa 43.500 Abonnenten auf Youtube, 57,2 Tsd. Follower auf Twitter…

Tiemo Wölken: – Ah, ich habe die 57,2 also geknackt!

Wie genau verfolgen Sie Ihre Abonnentenzahl?

Tiemo Wölken: Nicht täglich, aber schon genau. Bei besonderen Themen merkt man sofort, wie sich die Zahl positiv entwickelt. Bei Instagram habe ich wegen meines Urlaubs nun eine Zeit lang weniger gepostet – da sieht man, dass der Algorithmus gleich knauseriger wird. Neue Abonnenten bleiben aus, weil man nicht mehr so präsent angezeigt wird. Die Abonnentenzahlen sind auch ein guter Indikator dafür, wie attraktiv das Informationsangebot ist, das ich schaffe. 80 Prozent meiner Youtube-Abonnenten sind zwischen 18 und 34 Jahre alt, bei Instagram besteht etwa die Hälfte der Abonnenten aus 18- bis 24-Jährigen, etwa ein Drittel ist 25 bis 34 Jahre alt.

Wie alt waren Sie, als Sie Ihre erste Mailadresse eingerichtet haben?

Tiemo Wölken: Das müsste in der 7. Klasse gewesen sein, also etwa mit 13, 14 Jahren, im Rahmen der schon erwähnten Internet-AG. Meine eine Mail-Adresse setzte sich aus meinem Vor- und Nachnamen zusammen, eine andere, alte Adresse, nutze ich auch heute noch als Spam-Adresse. Beide Adressen entstanden relativ zeitgleich.

Seit wann zeigen Sie einen Teil Ihres Lebens öffentlich in sozialen Netzwerken?

Tiemo Wölken: Bei Instagram bin ich schon seit dem 14. Juli 2012, auf Twitter seit Dezember 2008. Den Youtube-Kanal habe ich seit November 2016 – kurz bevor ich ins Europaparlament nachgerückt bin. Der Youtuber Peter Smits ist ein Freund von mir, er hat mich damals auf die Idee gebracht. Als klar war, dass ich nachrücke, habe ich überlegt: Wie kann ich Transparenz bei meiner Arbeit schaffen? Da sind wir sehr schnell auf Youtube gekommen. Ich hatte zunächst ein paar Bedenken, gerade was Hate Speech angeht. Aber er hat mich unterstützt und mir beispielsweise erklärt, wie ich eine Videoschnitt-Software bediene, wo man Hintergrundmusik herbekommt oder welches interessante Kameraperspektiven sind. Bis vor Kurzem habe ich alle meine Videos selbst gemacht. Inzwischen schaffe ich das aber nicht mehr, da ich jetzt auch rechtspolitischer Sprecher der S&D-Fraktion bin. Insofern habe ich jetzt jemanden im Team, der sich um den Schnitt kümmert.

Ich bin super froh, dass ich den Schritt gegangen bin, weil ich eine tolle Community habe. Von etwa 7000 Kommentaren unter Videos habe ich lediglich 10 bis 30 gelöscht, weil sie unverhältnismäßig waren. Das zeigt, wie toll man über diese Plattform kommunizieren kann.

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Die Startseite Ihrer Homepage zeigt ein Foto von Ihnen im Anzug, die Farben sind dezent. In ihrem Youtube-Video, das Sie als Reaktion auf das „Die Zerstörung der CDU“-Video von Rezo gemacht haben, tragen Sie ein schwarzes T-Shirt mit bunten Sternchen. Hemd und Jackett oder T-Shirt: Was ist Ihre „reale“ Persönlichkeit, in welcher „Welt“ fühlen Sie sich am wohlsten?

Tiemo Wölken: Das Foto von meiner Homepage ist im Rahmen der Juso-Kampagne entstanden, insofern sind das also Fotos, die für den Jugendwahlkampf verwendet wurden. Daher ist der Widerspruch für mich nicht vorhanden. Zwar sieht das eine Bild seriöser aus als das andere. Es ist aber auch eine Frage der Zielgruppen-Ansprache. Ich fühle mich in beiden Welten wohl. Weder im Jackett noch im Hoodie spiele ich jemandem etwas vor. Im Parlament trage ich fast immer Jackett oder Anzug. Ich habe aber auch kein Problem damit, wenn ich montags ankomme, erst mal einen Hoodie anzuhaben und ihn erst am nächsten Tag gegen ein Jackett zu wechseln.

Wie schwierig ist der Spagat zwischen einem seriösen, eher verstaubten Politiker-Auftritt und einem lässigen, eher oberflächlichen Social Media Auftritt?

Tiemo Wölken: Ich würde nicht sagen, dass Social Media oberflächlich ist! Das Rezo-Video war beispielsweise über eine Stunde lang. Auf Twitter kann man in Threads Dinge sehr gut erklären, das habe ich jetzt auch schon mehrmals gemacht. Zum Beispiel, als ich im Juni Gauck kritisiert habe. Ich hatte geschrieben: „Ey Gauck, mit Nazis regiert man nicht.“

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Das wurde in den Medien auch aufgegriffen. Dann habe ich im Nachhinein erklärt, was ich meine, warum ich sein Verhalten nicht richtig finde. Über 800 Leute haben diesen Beitrag mit „Gefällt mir“ markiert. Twitter ist kürzer, Youtube ist ein ideales Instrument, um längere Sachverhalte zu erklären. Und auf Instagram, als es um die Artikel 13-Debatte ging, habe ich schnell Gerüchte aufgeklärt. Insofern glaube ich, dass Social Media sehr dazu geeignet ist, Inhalte zu diskutieren und vermitteln.

Das Schöne ist: Es gibt Flexibilität und man kann die Zuschauer einbinden. Und dadurch hat man die Möglichkeit, den Content so zu gestalten, dass es dem entspricht, was der Zuschauer sehen will.

Die nächste Stufe ist Twitch, eine tolle Austauschplattform: 300 Zuschauer waren neulich gleichzeitig beim Livestream dabei, über 180 haben sich aktiv im Chat beteiligt. Also eine tolle Interaktionsrate, das bekommt man mit keiner Großveranstaltung hin. Diese Livestreams werden aber auch von Journalistinnen und Journalisten geschaut, so dass manchmal Zitate in Zeitungen auftauchen, die dann neben Zitaten, die aus Pressemeldungen oder Telefoninterviews zusammengesammelt wurden, etwas unprofessioneller, salopper klingen. Aber damit kann ich gut leben. Gleichzeitig habe ich mit dem Livestream, glaube ich, mehr Leute erreicht als mancher Zeitungsartikel: insgesamt etwa dreitausend Menschen. Natürlich ist die Art und Weise des Ausdrucks in den sozialen Netzwerken ein anderer, aber der Inhalt bleibt gleich.

Dass ich auch auf Twitter permanent unter Medien-Beobachtung stehe, vergesse ich auch immer mal wieder. Wenn dann was aufgegriffen wird, denke ich mir: Ah ja, da war ja was. Was mir wichtig ist: Der „Mythen-Mittwoch“ auf meinem Youtube-Kanal ist zwar gescripted, aber der Rest ist so, wie mir die Schnauze gewachsen ist. Das ist für die Zuschauer auch attraktiver. Und das Feedback, das ich beispielsweise auf Youtube bekomme, hätte ich so nie als Reaktionen auf ein Fernsehinterview bekommen. Wenn man da offen rangeht, hilft es einem sehr in der eigenen Weiterentwicklung. Ich bin überzeugt davon, dass die Zukunft der politischen Diskussion in Social Media liegt. Ich hoffe, dass viele Kollegen mitmachen, weil es Einblicke bringt, die sonst nirgendwo vermittelt werden können.

In einem Interview erzählen Sie, dass Sie damals zu Beginn Ihres Youtube-Kanals von anderen Politikern mitleidig angeguckt und gefragt worden seien, ob Sie Ego-Probleme hätten.

Tiemo Wölken: Mittlerweile fragen mich die Kollegen eher: Wie kann ich das auch machen? Mein Tipp ist eigentlich immer: nicht versuchen, etwas zu kopieren, sondern authentisch sein! Der Kardinalfehler ist etwas kopieren zu wollen, was man selber nicht ist. Ich bin aber überzeugt, dass mehr und mehr Kollegen mit eigenen Formaten anfangen werden.

Kann es sich ein Unternehmen oder eine Behörde heute überhaupt noch erlauben, NICHT auf Social Media vertreten zu sein?

Tiemo Wölken: Das kommt immer drauf an, wie. Es gibt Unternehmen, die das sehr gut machen; bei anderen merkt man, dass sie das Thema einfach auf der Liste hatten – aber die Umsetzung ist schlecht. Weil es zum Beispiel keine zeitnahen Reaktionen gibt. Für Behörden finde ich es gut, wenn es darum geht, Ansprechpartner für Bürger zu sein, als Service. Die Polizei macht das schon sehr gut, die Polizei Frankfurt fällt mir da ein, auch die Feuerwehr Osnabrück hat eine wunderbare Social Media-Präsenz, was Facebook angeht. Wichtig ist auch hier, authentisch zu bleiben.

Was erwartet die Zuschauer Ihres Youtube-Kanals?

Tiemo Wölken: Sie bekommen Einblicke in das politische Leben in Brüssel und Straßburg und in das Leben eines Abgeordneten. Mir ist dabei wichtig, dass ich persönliche Eindrücke gebe und auch meine Meinung sage; es wird aber nie privat. Man wird beispielsweise nie ein Foto meiner Partnerin sehen.

Deswegen sind Sie sich auch so sicher, dass es aktuell nichts Peinliches von Ihnen im Internet zu entdecken gäbe?

Tiemo Wölken: (lacht) Weiß ich nicht, haben Sie was gefunden?!

Nö, aber wer weiß…!

Tiemo Wölken: Das war die Grundlinie, die ich mir damals gesetzt habe: Immer persönlich, aber nicht privat.