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Serienmörder In Oldenburg Vor Gericht Prozess gegen Niels Högel – Chronik von Tag zu Tag

Karsten Krogmann unserem Reporterteam

Oldenburg/Delmenhorst - Er ist einer der furchtbarsten Serienmörder der deutschen Nachkriegsgeschichte: Ex-Krankenpfleger Niels Högel ist bereits wegen sechs Taten zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Doch ihm könnten weit mehr Menschen in Oldenburg und Delmenhorst zum Opfer gefallen sein.

In einem Mordprozess, der sich über 24 Verhandlungstage gestreckt hat, stand Högel bis Juni 2019 in 100 weiteren Fällen vor Gericht. Der Ex-Krankenpfleger selbst hatte 43 der 100 Taten zugegeben, jedoch auch fünf Fälle ausdrücklich bestritten. An andere Taten konnte er sich nach eigener Aussage nicht erinnern. 32 Zeugen wurden vernommen, darunter Ärzte und Pfleger aus den Kliniken Oldenburg und Delmenhorst. Dort hat Högel von 2000 bis 2005 wehrlosen Patienten eine Medikamenten-Überdosis gespritzt, um sich vor Kollegen als kompetenter Lebensretter präsentieren zu können. Acht der Zeugen wurden vereidigt.

Am Ende wurde Högel in 85 Fällen für schuldig gesprochen.

Es gab in Deutschland bisher keinen vergleichbaren Mordprozess. Wegen der hohen Zahl an Nebenklägern und des großen öffentlichen Interesses fand der Prozess nicht im Gebäude des Landgerichts statt, sondern in den Festsälen der Weser-Ems-Halle.

NWZ-Chefreporter Karsten Krogmann – ausgezeichnet 2016 für die Reportage „Warum stoppte niemand Niels Högel?“ – und das Reporterteam der NWZ berichten in dieser Chronik vom Prozess in der Weser-Ems-Halle in Oldenburg.

Hintergrund: Der Fall Niels Högel steht für die größte Mordserie in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Der ehemalige Krankenpfleger soll in den Jahren 2000 bis 2005 zunächst 36 Patienten im Klinikum Oldenburg und dann 64 weitere Patienten im Klinikum Delmenhorst getötet haben, indem er ihnen heimlich Medikamente in Überdosis spritzte. Für sechs weitere Taten im Klinikum Delmenhorst wurde der inzwischen 41-jährige Högel bereits in früheren Prozessen verurteilt. Er verbüßt eine lebenslange Haftstrafe in der Justizvollzugsanstalt Oldenburg.

100 tote Mütter, Väter, Geschwister, Großeltern, Kinder

100 Namen listet die Anklageschrift gegen Niels Högel auf: 100 Patienten, die in der Hoffnung auf Heilung ins Krankenhaus gegangen waren, dort aber stattdessen den Tod fanden. 100 verstorbene Patienten – das sind 100 tote Mütter, Väter, Geschwister, Großeltern, Kinder. Die Nebenkläger-Anwälte, allen voran Gaby Lübben aus Delmenhorst, haben diesen Menschen in ihren Plädoyers ein Gesicht gegeben.

Wir erinnern in einem Video an die Verstorbenen.

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Sehen Sie hier unser ausführliches Multimedia-Dossier, für das Karsten Krogmann und Christian Ahlers im Mai 2019 mit dem Nannen-Preis (Kategorie Dokumentation) ausgezeichnet wurden :

11. und 12. Juni: Revision eingelegt

Der vorige Woche zu lebenslanger Haft verurteilte Serienmörder Niels Högel hat gegen diese Entscheidung des Oldenburger Landgerichtes Revisionsantrag gestellt. Die Verteidigerinnen Ulrike Baumann und und Kirsten Hüfken hatten nach der Urteilsverkündung zunächst erklärt, sich über das weitere Vorgehen mit ihrem Mandanten besprechen zu wollen.

Der Sprecher der Angehörigen, Christian Marbach, bedauerte laut epd die Revision: „Wir hatten alle auf ein wenig Abstand zum Prozess gehofft. Nun werden die Wunden erneut aufgerissen – und das nur, damit Högel sich erneut eine Bühne schaffen kann.“

Nur einen Tag später gab auch Nebenkläger Frank Brinkers bekannt, Revision ein. Der Tod seines Vaters am 14. September 2001 gehörte zu den 15 Fällen, die Niels Högel nicht angelastet werden konnten. Es gebe „zu viele offene Fragen“, so Brinkers.

Sein Vater war der erste Tote am sogenannten schwarzen Wochenende, an dem es zu einer zweistelligen Zahl an Reanimationen gekommen war. Zeugen sprachen vor Gericht von einer „grauenvollen“ Nacht und dass sie dächten, „hier spukt’s“. In Brinkers‘ Körper fanden Gerichtsmediziner später Rückstände des Wirkstoffs Lidocain.

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24. Prozesstag am 6. Juni: Schuldig in 85 Fällen

Das Landgericht Oldenburg hat Niels Högel wegen Mordes an 85 Patienten schuldig gesprochen. In 15 Fällen sprach die Strafkammer den Angeklagten vom Mordvorwurf frei, weil sich die Tat nicht zweifelsfrei nachweisen ließ. Högel war wegen 100-fachen Mordes angeklagt.

Das Gericht verurteilte den 42-jährigen Wilhelmshavener zu einer lebenslangen Haftstrafe und stellte außerdem die besondere Schwere der Schuld fest. Zudem wurde ihm ein lebenslanges Berufsverbot auferlegt. Praktisch hat der Schuldspruch kaum Auswirkungen für Högel: Er sitzt bereits im Gefängnis; das Landgericht hatte ihn bereits 2015 wegen fünf weiterer Taten zu einer lebenslange Haftstrafe verurteilt.

Eine anschließende Unterbringung in der Sicherungsverwahrung ordnete das Gericht nicht an. Richter Bührmann sagte, dies sei nicht „unerlässlich“ - Unerlässlichkeit ist aber die Voraussetzung für eine entsprechende Anordnung, wenn sie juristisch Bestand haben soll. Högels Verteidigung hatte bereits im Prozess darauf hingewiesen, dass lebenslange Haft und Sicherungsverwahrung als Paket im Fall des Angeklagten keinen Nutzen hätten: So lange der Straftäter als gefährlich eingestuft wird, könne er nicht aus der lebenslangen Haft entlassen werden; sei er aber nicht mehr gefährlich, müsse er auch aus der Sicherungsverwahrung entlassen werden.

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23. Prozesstag am 5. Juni: Das letzte Wort des Mörders

Die Verteidigung hat in 31 Fällen einen Freispruch für Niels Högel gefordert. Dem 42-jährigen Angeklagten werden insgesamt 100 Taten vorgeworfen. Bei 55 Vorwürfen beantragten die Rechtsanwältinnen Ulrike Baumann (Münster) und Kirsten Hüfken (Oldenburg) eine Verurteilung Högels wegen Mordes, 14 Taten werteten sie als versuchten Mord. In 31 Fällen aber gebe es Zweifel an der Schuld des Angeklagten, sagten die Verteidigerinnen am Mittwochmorgen in ihrem Plädoyer.

Die Staatsanwaltschaft hatte zuvor gefordert, Högel wegen Mordes in 97 Fällen zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe zu verurteilen, und beantragt, eine besondere Schwere der Schuld festzustellen. In drei Fällen hatte Oberstaatsanwältin Daniela Schiereck-Bohlmann auf Freispruch plädiert: Für die Taten gebe es keine hinreichenden Beweise. Der Ex-Krankenpfleger selbst hatte 43 der 100 Taten zugegeben, jedoch auch fünf Fälle ausdrücklich bestritten. An andere Taten konnte er sich nach eigener Aussage nicht erinnern.

Das letzte Wort vor Gericht hatte der Angeklagte. „Bei jedem Einzelnen möchte ich mich aufrichtig für all das, was ich ihnen über Jahre angetan habe, entschuldigen“, sagte der 42-Jährige, der sein Schlusswort vom Blatt ablas. Es sei ihm während des Prozesses klar geworden, wie viel unendliches Leid er durch seine „schrecklichen Taten“ verursacht habe. Nach dem Schlusswort Högels zog sich die Strafkammer zur Beratung zurück.

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22. Prozesstag am 17. Mai: Die Angehörigen haben das Wort

„Die kritische Phase ist überwunden“, das sagten die Ärzte der Familie von Johann L. Er starb noch in der Nacht. „Sie macht gute Fortschritte, Sie werden noch oft mit Ihrer Frau in den Urlaub fahren können“, das sagten die Ärzte dem Mann von Ursula J. Nur wenig später war sie tot.

Am 22. Prozesstag haben die Angehörigen das Wort, für sie sprechen die Vertreter der Nebenklage. Sie erinnern daran, dass es nicht um Fälle geht in diesem Prozess, sondern um Menschen mit Träumen und Plänen.

Diskussion gibt es erneut um die Frage nach einer Sicherungsverwahrung für Högel. Ein Anwalt warnt davor, eine solche Anordnung könnte zu Revisionsgründen führen. „Es ist niemandem damit gedient, wenn dieses Verfahren wiederholt werden muss“, sagt er.

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Lesen Sie auch: Die Angehörigen haben das Wort, Reportage vom 22. Prozesstag

21. Prozesstag am 16. Mai: Die Anklage sagt: Schuldig in 97 Fällen

100 Patientenmorde wirft die Anklage dem früheren Krankenpfleger Niels Högel vor – aber lässt sich seine Schuld auch in jedem einzelnen Fall beweisen? Nach 21 Prozesstagen steht zumindest für die Staatsanwaltschaft Oldenburg fest: In fast allen Fällen gibt es „keine vernünftigen Zweifel an der Täterschaft des Angeklagten“, wieder und wieder sagt Oberstaatsanwältin Daniela Schiereck-Bohlmann diesen Satz in ihrem mehrstündigen Plädoyer.

Zu Beginn macht Schiereck-Bohlmann noch einmal deutlich, dass die Staatsanwaltschaft sich weder von Högels Aussagen noch von den Ergebnissen der Gutachter allein leiten lasse. Entscheidend sei immer die Gesamtschau der Indizien. Am Ende ihres Plädoyers fordert die Oberstaatsanwältin: Högel soll wegen Mordes in 97 Fällen zu lebenslanger Haft verurteilt werden, außerdem soll die besondere Schwere der Schuld festgestellt worden. In drei Fällen bleiben Zweifel, da fordert die Staatsanwaltschaft Freispruch.

Ein emotionales Plädoyer hält die Delmenhorster Rechtsanwältin Gaby Lübben als erste der 17 Nebenkläger-Vertreter, die fast 100 der 126 Nebenkläger vertritt. Sie zeigt Fotos der Verstorbenen und erzählt aus ihrem Leben.

Offen bleibt zunächst die Frage nach einer anschließenden Sicherungsverwahrung für Högel. Die Staatsanwaltschaft hält eine solche Anordnung für juristisch schwierig.

Lesen Sie auch: Im Zweifel für den Angeklagten?, Reportage vom 21. Prozesstag

Lesen Sie auch : Wird Niels Högel für immer weggesperrt?, Juristischer Hintergrund

20. Prozesstag am 25. April: Ein Mann „ohne Scham und Reue“

Am 20. Prozesstag geht Gutachter Prof. Dr. Henning Saß mit Niels Högel hart ins Gericht. Er nennt ihn nicht nur einen „notorischen Lügner“, was ja auch schon andere Sachverständige festgestellt haben - sondern bescheinigt ihm eine „ethische Verwahrlosung“ und „menschliche Verrohung“. Der Angeklagte zeige einen „bemerkenswerten Mangel an Empathie“ und ein „Fehlen von Scham und Reue“.

Saß warnt zudem: Högel sei gefährlich, er zeige einen Hang zu schweren Straftaten. Er fordert das Gericht auf, sorgfältig zu prüfen, ob es nicht zusätzlich zu der bereits verhängten lebenslangen Haftstrafe auch eine anschließende Sicherungsverwahrung anordne.

Ein anderer Sachverständiger hat derweil seine Hausaufgaben gemacht: Prof. Dr. Wolfgang Koppert nimmt erneut Stellung zu den Fällen, in denen Högel Patienten mutmaßlich mit dem Medikament Lidocain getötet hat. Kann dieses Mittel auch auf anderem Weg in die Körper gelangt sein, etwa durch Gels und Sprays beim Einsetzen von Sonden und Kathetern? Die Verhandlung verläuft anstrengend, die Diskussion wird schnell fachlich. Irgendwann zieht eine Juristin die Notbremse. „Es tut mir leid“, sagt Ulrike Baumann, Verteidigerin des Angeklagten Niels Högel, „ich habe Ihr Gespräch gerade einfach nicht kapiert.“

Alle Zweifel kann die Wissenschaft nicht ausräumen.

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Lesen Sie auch : Die schwierige Suche nach Wahrheit, Reportage vom 20. Prozesstag

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19. Prozesstag am 5. April: „Manipulierte“ Högel an wachen Patienten?

Sonntag, 2. Mai 2004, 23.45 Uhr. Ein lauter Schrei hallt durch die Intensivstation des Klinikums Delmenhorst. In seinem Bett schreit der Patient Friedrich W. in Todesangst. Gerade hat das Herz des Rentners völlig überraschend aufgehört zu schlagen. Für immer. Um 0.09 Uhr wird der 92-Jährige für tot erklärt. Für Professor Dr. Wolfgang Koppert, der am Freitag seine in der vergangenen Woche begonnene Aussage als medizinischer Gutachter fortsetzt, steht in diesem Fall außer Frage, dass der Herzstillstand des 92-Jährigen durch das in seinem Blut gefundene Lidocain ausgelöst wurde. Gespritzt vom damaligen Krankenpfleger Niels Högel, der jetzt wegen 100-fachen Mordes an Patienten in Oldenburg und Delmenhorst in den Weser-Ems-Hallen vor Gericht steht.

Der Aufschrei sei typisch, wenn ein Medikament einen Herzstillstand auslöst, erklärt der erfahrene Mediziner. Und für noch etwas steht der Tod von Friedrich W. exemplarisch: Er zeigt, dass die Behauptung Högels, er habe keine wachen, ansprechbaren Patienten umgebracht, lediglich eine weitere Lüge des bereits rechtskräftig verurteilten Mörders ist. Der Schrei des Opfers zeigt, dass der Rentner bei Bewusstsein war, als ihm kurz zuvor die tödliche Injektion verabreicht worden war. Und er war kein Einzelfall. Eine ganze Reihe der Opfer, auch das konnte der Gutachter anhand der Akten aus den beiden Kliniken recherchieren, war nicht unter Vollnarkose, als sie „sehr wahrscheinlich“ Opfer von Högel wurden.

Lesen Sie auch : „Manipulierte“ Högel an wachen Patienten?“, Reportage vom 19. Prozesstag

18. Prozesstag am 4. April: Erinnerungslücken nur vorgeschoben?

Dutzende von Angehörigen, die derzeit den Prozess in den Weser-Ems-Hallen verfolgen, werden vielleicht nie erfahren, ob ihre Verwandten von Niels Högel umgebracht wurden oder vielleicht doch eines natürlichen Todes starben. Insgesamt 52-mal hat der ehemalige Krankenpfleger im Prozess um den 100-fachen Mord an Patienten in Oldenburg und Delmenhorst erklärt, er könne sich an den Tod dieser Menschen nicht mehr erinnern.

Lesen Sie auch : „Högel könnte Auskunft geben“, Reportage vom 18. Prozesstag

Glaubt man allerdings Professor Dr. Max Steller, dann sind diese Erinnerungslücken nur vorgeschoben. Der 75-jährige Psychologe vom Zentrum für Aussagepsychologie in Berlin tritt am 18. Verhandlungstag als Gutachter in den Zeugenstand, nachdem er Högel im vergangenen Jahr mehrfach über Stunden befragt und den Auftritt des Angeklagten vom ersten Tag des Prozesses an genau beobachtet hat. Resultat: „Högel könnte Auskunft geben“ – wenn er es denn wollte. Doch genau da liege das Problem: Högel besitze eine „hohe Lügenbereitschaft“ und habe in der Vergangenheit stets nur das eingeräumt, was ihm nachgewiesen werden konnte.

17. Prozesstag am 29. März: Weitere Gutachten

Unklarheiten im Zusammenhang mit dem Medikament Lidocain und weitere Fragen an den Gutachter Prof. Dr. Wolfgang Koppert bringen den bisherigen Zeitplan im Prozess gegen Niels Högel ins Wanken. Der medizinische Gutachter hat etwa 320 Gutachten erstellt, in denen er Patientenakten aus Oldenburg und Delmenhorst auf mögliche Manipulationen durch den ehemaligen Krankenpfleger untersucht hatte.

Lidocain gilt als eines der Medikamente, mit denen Högel manipuliert haben soll; in rund 40 Fällen fanden die Gutachter Spuren des Wirkstoffs in den Körpern von toten Patienten. Das Mittel kann jedoch auch Bestandteil von Sprays oder Gels sein, die zum Einführen von Sonden oder Kathetern benutzt werden. Könnte es also sein, dass das Medikament gar nicht durch Högel, sondern auf anderem Wege eingebracht wurde?

Richter Sebastian Bührmann gibt Prof. Dr. Koppert Hausaufgaben auf: Er soll die betreffenden Patientenakten auf den Einsatz dieses Gels untersuchen und die Fälle entsprechend neu bewerten. Eigentlich sollte der Gutachter am 5. April wieder gehört werden. Bührmann räumte Prof. Dr. Koppert jedoch Zeit bis zum 25. April ein. Dann sollten laut eigentlichem Zeitplan bereits die Plädoyers beginnen.

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Kommentar von Karsten Krogmann : Zweifel an Beweisen sind nur schwer auszuhalten

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16. Prozesstag am 28. März: Zweifel an Högels Schuld

Für die zahlreich im Saal anwesenden Angehörigen der Opfer ist der 16. Prozesstag besonders schwer zu ertragen: Jetzt geht die Verteidigung in die Offensive.

Högels Verteidigerinnen Ulrike Baumann und Kirsten Hüfken legen dem Gericht einen 27 Seiten starken Beweisantrag vor, Inhalt: angebliche Widersprüche in den schriftlichen Aussagen der für diesen Tag geladenen Gutachter und Sachverständigen und andere Punkte, die aus Sicht der Verteidigung gegen eine klare Schuldzuweisung sprechen. Alle Vorwürfe basierten lediglich auf Indizien; es sei von den beauftragten Gutachtern und Sachverständigen medizinisch nicht nachgewiesen worden, dass es einen „kausalen Zusammenhang“ zwischen den „Manipulationen“ Högels und dem Tod von Patienten gebe.

Gutachter Prof. Dr. Georg von Knobelsdorff antwortet auf die Frage des Gerichts, ob es für den Tod der Patienten auch andere Erklärungen geben könnte als eine Mordtat Högels: „Ja, in fast allen Fällen.“

Lesen Sie auch : Verteidigung bezweifelt Högels Schuld, Reportage vom 16. Prozesstag

15. Prozesstag am 8. März: Beweissuche auf dem Friedhof

Nach den Zeugen kommen im Mordprozess gegen Niels Högel nun die Sachverständigen zu Wort. So nüchtern wie möglich gibt Rechtsmediziner Dr. Benedikt Vennemann einen Abriss über den vermutlich schmerzhaftesten Teil im Mordverfahren Högel für die Angehörigen der 100 toten Klinikpatienten: die Graböffnung und die Obduktion der mutmaßlichen Opfer. Dr. Jörg Teske, forensischer Toxikologe, erklärt, wie die Gewebereste homogenisiert wurden, wie chromatografische und massenspek­trometrische Verfahren eingesetzt wurden, kurz: wie die gesuchten Wirkstoffe chemisch identifiziert werden konnten. Die Ergebnisse seiner Untersuchungen bilden nun die Grundlage der 100 Mordanklagen im Verfahren gegen Niels Högel.

Am Rande des Prozesstages gibt es weiter Ärger um die Zeugenaussagen von ehemaligen Högel-Kollegen aus dem Klinikum Oldenburg. Nachdem die Staatsanwaltschaft Meineid-Verfahren gegen mehrere Zeugen eingeleitet hat, erstattet auch Frank Lauxtermann Strafanzeige gegen den Zeugen Ludger W. wegen Falschaussage vor Gericht.

Krankenpfleger Lauxtermann, ehemals Pfleger in Oldenburg, hatte vor Gericht ehemalige Kollegen von der herzchirurgischen Intensivstation des Klinikums Oldenburg schwer belastet. So hatte er ausgeführt, dass es im Klinikum Oldenburg frühzeitig Diskussionen über den Pfleger Högel und die gestiegene Zahl an Reanimationen gegeben habe. Er wisse das unter anderem von seinen Ex-Kollegen H. und W., die ihm das beispielsweise bei einem Grillabend im Hause W. berichtet hätten. Beide Zeugen haben das dann bei ihren Aussagen vor Gericht bestritten; ein gemeinsames Grillen habe es nie gegeben.

In seiner Anzeige liefert Lauxtermann nun Details des Treffens bei W. nach: So habe es Nudel- und Kartoffelsalat von Aldi gegeben, weil W. „keine Lust“ gehabt habe, Salate zu machen. Auch die Teilnehmer der Fahrgemeinschaft zum Grillen nennt er. Lauxtermann nennt das Verhalten der Ex-Kollegen „unerträglich“.

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14. Prozesstag am 7. März: Der Klang der Erinnerung

Im Mordprozess gegen den früheren Krankenpfleger Niels Högel belastet eine Zeugin ihren Vorgesetzten aus dem Klinikum Delmenhorst schwer. Der Stationsleiter sei einem deutlichen Verdacht gegen Högel nicht nachgegangen und habe stattdessen Mitarbeitern „das Maul verboten“, sagt die 57-jährige Krankenschwester vor Gericht.

Konkret ging es darum, dass ein Pfleger Anfang Mai 2005 leere Ampullen des Herzmittels Gilurytmal gefunden hatte, nachdem ein Patient verstorben war. Sechs Wochen später ertappte eine Krankenschwester Högel dann auf frischer Tat am Bett eines weiteren Patienten. Nach dem Vorfall im Mai 2005 tötete Högel nach Erkenntnissen der Ermittler mindestens fünf Menschen.

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In der Zeit, in der Högel auf der Intensivstation in Delmenhorst arbeitete, habe die Zahl der Reanimationen deutlich zugenommen, sagt die Zeugin weiter aus. Es habe Gerede unter den Mitarbeitern gegeben, „man hat gesagt, da stimmt etwas nicht, irgendetwas ist komisch“. Mehrere Kollegen hätten Vorgesetzte angesprochen und darum gebeten, nicht mehr mit Högel zusammenarbeiten zu müssen. Andere hätten dem Pfleger kurzerhand selbst verboten, in ihre Zimmer zu gehen.

Richter Sebastian Bührmann stellt fest, dass sich die Aussagen von Zeugen aus Delmenhorst und von Zeugen aus Oldenburg unterscheiden. Einen Ex-Kollegen von Högel aus Oldenburg mit schwerem Gedächtnisschwund herrscht er an: „Wir hatten heute drei Pflegerinnen aus Delmenhorst hier, die hatten auch Schwierigkeiten, sich an alles zu erinnern. Aber wissen Sie ... da klingt das immer anders!“ .

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13. Prozesstag am 22. Februar: Früher Verdacht gegen Högel

Bereits frühzeitig hatten Ärzte im Klinikum Oldenburg den Krankenpfleger Niels Högel in Verdacht, möglicherweise mit einer gestiegenen Zahl an Komplikationen auf der herzchirurgischen Intensivstation zu tun zu haben. Ein ehemaliger Oberarzt des Klinikums bestätigt dies am 13. Verhandlungstag nach zäher Vernehmung. Der Fall sei dann „zur Chefsache gemacht“ worden, „und danach war Högel weg von der Abteilung“, so der Zeuge.

Und was passierte dann?, will das Gericht wissen. Der Zeuge zuckt mit den Schultern. „Deswegen hat man in Deutschland Hierarchie“, antwortet er.

Dass die Mordserie des früheren Krankenpflegers Niels Högel auch im Kollegenkreis schwere Schäden hinterlassen hat, schildert eindringlich der Zeuge Stephan S. „Das begleitet mich bis heute“, sagt er. Er habe sich professionelle Hilfe holen müssen, um die Erfahrung psychisch zu verarbeiten. Auch körperlich habe er sich in Behandlung begeben müssen. Seinen Beruf als Krankenpfleger könne er nicht mehr ausüben. „Ich möchte mich dieser Situation nie wieder aussetzen“, sagte K., „diese Vertrauensbasis erlange ich nie wieder.“ Die Mordserie auf den Intensivstationen in Oldenburg und Delmenhorst zu begreifen und damals nicht bemerkt zu haben, sei „wirklich schwierig. Auch heute noch“.

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12. Prozesstag am 21. Februar: „Sagen Sie die Wahrheit“

„Es ist für die Wahrheit nie zu spät“ – mit eindrücklichen Worten hat Richter Sebastian Bührmann im Mordprozess gegen Niels Högel an den Angeklagten appelliert. „Wir alle, die wir hier sitzen, gieren nach Wahrheit“, sagte Bührmann zu Beginn des 12. Verhandlungstages am Donnerstag in der Oldenburger Weser-Ems-Halle. Er verwies auf die Angehörigen von toten Klinikpatienten im Saal: „Wenn Sie noch irgendwas Gutes tun wollen in diesem Verfahren für die Leute, dann ist das die Wahrheit.“

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Schwierig bleibt es aber auch, ehemaligen Kollegen von Högel die Wahrheit zu entlocken. „An der Theke würde ich sagen, es wird rumgeeiert“, sagt der Richter irgendwann. Mühsam versucht das Gericht, die Vorgänge im Klinikum Oldenburg zu rekonstruieren, die schließlich zur Trennung von Högel führten - und der dann nach Delmenhorst wechseln konnte, ausgestattet mit einem guten Zeugnis. Deutlich wird: Klinikleitung und auch Chefärzte setzten alles daran, den auffällig gewordenen Pfleger loszuwerden.

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11. Prozesstag am 31. Januar: Zeugin will Vereidigung verweigern

Dramatische Szene im Gerichtssaal: Als Richter Sebastian Bührmann im Högel-Prozess eine aussageunwillige Zeugin vereidigen will, verliert die 67-Jährige die Fassung: „Ich will nicht vereidigt werden!“, sagt die frühere Krankenschwester Alwine C. aus dem Klinikum Delmenhorst. „Ich weiß nicht, was ich sagen darf und was ich nicht sagen darf“, erklärt sie aufgelöst ihr Verhalten. „Ich habe die Befürchtung, dass ich mich selbst reinreiße. Ich habe die Angst, dass ich jetzt schuld bin.“

Das Gericht verzichtet daraufhin auf die Vereidigung. „Ich merke, dass Sie am Rande sind dessen, was Sie körperlich und gesundheitlich ertragen können“, sagt Bührmann. „Ich werde Sie deshalb erst mal entlassen.“

Auch wenn das Aussageverhalten der Zeugin laut Bührmann „fatal“ ist: Die Szene zeigt eine Dimension des Falls Högel, die bislang wenig Beachtung fand. Nämlich: Welche Folgen haben die intensiven Ermittlungen gegen Ex-Kollegen des wegen hundertfachen Mordes angeklagten Högel? Die Staatsanwaltschaft hatte gegen sechs Klinik-Mitarbeiter aus Delmenhorst Anklage erhoben, in vier Fällen hat das Gericht die Anklage zugelassen. Der Vorwurf: „Tötung durch Unterlassen“. Der Prozess gegen Klinikmitarbeiter soll nach Abschluss des Verfahrens gegen Högel beginnen.

Dass dies merkliche Spuren hinterlassen hat in der Belegschaft, zeigt nicht nur der Auftritt von Alwine C. Bereits am Vortag hatte Krankenpfleger Michael F. sich nur zäh und mühevoll erinnert an die Vorgänge auf der Intensivstation. Wiederholt musste das Gericht ihm Zitate aus früheren Vernehmungen durch die Polizei vorhalten. Auch gegen F. war Anklage erhoben worden, das Landgericht hatte diese Anklage aber nicht zugelassen. Mehrfach sagte Richter Bührmann den Zeugen, dass sie nichts zu befürchten hatten - offenbar vergeblich.

Lesen Sie : Die Angst der Zeugin vor dem Richter, Reportage vom 11. Prozesstag

10. Prozesstag am 30. Januar: „Es war grauenvoll“

Gibt es einen „Maulkorb“ für Högels Ex-Kollegen aus dem Klinikum Oldenburg? Vorstandschef Dr. Dirk Tenzer streitet das ab. Er verteidigt das Vorgehen des Krankenhauses, allen Mitarbeitern für Zeugenaussagen im Fall Högel einen Anwalt zur Seite zu stellen und ihn auch zu bezahlen. Der 46-jährige Krankenhausmanager sagt am zehnten Verhandlungstag in der Weser-Ems-Halle, er sehe das als seine „Fürsorgepflicht“ an. „Für unsere Mitarbeiter ist es eine absolute Ausnahmesituation, überhaupt in diesem Mordprozess aussagen zu müssen“, so Tenzer.

Fast alle Mitarbeiter des Klinikums hatten sich zuvor schon zu Vernehmungen durch die Polizei von einem Anwalt begleiten lassen. Auch vor Gericht war ein Teil der Mitarbeiter mit Rechtsbeistand erschienen. Beamte der Soko „Kardio“ hatten dieses Vorgehen auf Nachfragen des Richters als „auffällig“ bezeichnet und zudem große Erinnerungslücken der Zeugen aus dem Klinikum festgestellt.

Auch Richter Sebastian Bührmann sagte, es sei ihm in knapp 20 Jahren Richtertätigkeit „noch nicht vorgekommen, dass ein Arbeitgeber jedem seiner Arbeitnehmer einen Zeugenbeistand stellt und bezahlt“. Aber, so Bührmann, „alles an diesem Verfahren ist ungewöhnlich“.

Für Gänsehaut sorgt die Aussage einer ehemaligen Krankenschwester aus dem Klinikum Oldenburg, die sich im Gegensatz zu vielen ihrer Kollegen gut erinnern kann (und ohne Anwalt vor dem Richter erscheint): Sie erinnert sich an die „Nacht der Reanimationen“, in der es immer wieder zu Notfällen und Todesfällen gekommen sei, ausgelöst durch Niels Högel. „Es war grauenvoll“, sagt sie.

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9. Prozesstag am 23. Januar: Verdächtige Gedächtnislücken

Gleich der erste Zeuge des Prozesstages sorgt für Verärgerung: Mehrere Nebenklagevertreter wollen Erklärungen abgeben, weil sie sich von Johann K., stellvertretende Stationsleitung im Klinikum Oldenburg, „zum Narren gehalten“ fühlten oder ihnen „gleich der Kragen platzt“. Der 53-jährige K., Ex-Kollege des Angeklagten, hatte zuvor in eineinhalbstündiger Vernehmung große Erinnerungslücken offenbart.

Mit den anderen Zeugen hat das Gericht nicht viel mehr Glück. Viele Ex-Kollegen von Högel leiden offenbar unter Gedächtnisschwund. Zwei Krankenschwestern, mit denen Högel eine Beziehung hatte, werden unter Ausschluss der Öffentlichkeit vernommen. Es würden „Umstände aus dem persönlichen Lebensbereich“ zur Sprache kommen, begründete Richter Sebastian Bührmann die Entscheidung, „Fragestellungen betreffen den Sexual- und Intimbereich“. Durch das große Medieninteresse an dem Fall könnte die Privatsphäre der Zeuginnen in den Fokus der Öffentlichkeit geraten.

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8. Prozesstag am 22. Januar: Was wussten Kollegen – und wann?

Der Krankenpfleger Frank Lauxtermann belastet im Mordprozess in der Weser-Ems-Halle seine ehemaligen Kollegen im Klinikum Oldenburg schwer. „Es gab Kollegen, die haben die Zusammenhänge gesehen, mit den Todesfällen, Reanimationen, dem Namen Niels Högel“, sagt der 55-Jährige als Zeuge vor Gericht. Spätestens Ende 2001 sei die „Stimmung“ gekippt auf der herzchirurgischen Intensivstation, so Lauxtermann.

Im Gegensatz zu anderen Zeugen aus dem Klinikum verzichtet Lauxtermann darauf, sich von einem Anwalt beraten und begleiten zu lassen. Das Klinikum habe ihm angeboten, die Kosten zu übernehmen. „Ich habe davon abgesehen, weil ich das Gefühl hatte, dass man mich auf eine gewisse Linie bringen wollte“, sagt er. Er wolle frei sprechen.

Gleich der nächste Zeuge, ein leitender Oberarzt aus dem Klinikum, kommt mit Anwalt. Er habe kaum Erinnerungen an Einzelsituationen, sagt er gleich zu Beginn. „Herrn Högel kenne ich nur vom Bild her“, sagt der 60-Jährige.

Im Gerichtssaal gibt es vereinzelt Gelächter nach den Aussagen des Zeugen. Der Richter nimmt ihn anschließend unter Eid.

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7. Prozesstag am 4. Januar: Früh gab es konkrete Hinweise

Wenn die Soko „Kardio“ an der Tür klingelte, reagierten die Angehörigen der mutmaßlichen Högel-Mordopfer zumeist bestürzt – häufig aber auch mit einem Kopfnicken. „Das war für sie sehr oft die Bestätigung eines lange gehegten Verdachts“, sagt ein Polizist am siebten Verhandlungstag des Mordprozesses gegen Niels Högel. „Viele hatten die Vermutung schon lange, da stimmt was nicht.“

Dass es frühzeitig aber auch schon konkrete Hinweise gab auf mögliche Mordtaten des Krankenpflegers Högel, macht ein Delmenhorster Kriminalbeamter deutlich. Der inzwischen pensionierte Polizist hatte 2005 die Ermittlungen übernommen, nachdem Högel im Klinikum Delmenhorst auf frischer Tat ertappt worden war. Er ließ sich damals Sterbefälle, Dienstpläne und Listen zur Medikamentenbestellung geben – und ging frühzeitig von einer möglicherweise größeren Zahl an Taten aus. 2006 hätten alle Informationen der Staatsanwaltschaft vorgelegen, sagte der Beamte. Eine Pflegekraft habe ihm damals berichtet, dass sie Högel dabei beobachtet habe, wie er einem ihrer Patienten heimlich ein Medikament spritzte. Der Patient sei dann gestorben.

Dennoch kam es 2006 nur zur Anklage wegen Mordverdachts in einem einzigen Fall: Dieter M., an dessen Bett der Pfleger im Juni 2005 auf frischer Tat ertappt worden war. Der Beamte sagt noch einmal, was er auch schon im Prozess 2014/15 ausgesagt hatte: „Wenn es nach uns gegangen wäre, hätten wir das schon 2006, 07 in dem Maße durchgezogen, wie es ab 2014 geschehen ist.“

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6. Prozesstag am 3. Januar: Die vielen Lügen des Niels Högel

Am sechsten Tag der Verhandlung sagen erstmals Zeugen aus. Arne Schmidt, Leiter der Soko „Kardio“, bezeichnet Niels Högel als Lügner, der „durchaus geplant und inszeniert“ vorgehe. Als Beispiel nennt Schmidt eine Aussage Högels bei einer frühen Vernehmung: „Er hat beim Leben seiner Tochter geschworen, dass er in Oldenburg keine Taten begangen habe.“ Högel ist mittlerweile angeklagt, 100 Patienten ermordet zu haben – 36 davon soll er im Klinikum Oldenburg getötet haben.

Schmidts Aussage setzt auch die betroffenen Kliniken unter Druck. So habe es im Klinikum Delmenhorst frühzeitig Hinweise auf einen erheblich gestiegenen Verbrauch des Herzmittels Gilurytmal gegeben, sagt er. Die Medikamentenkommission habe sich bereits im April 2004 mit dem Thema befasst – 14 Monate, bevor Högel, der Gilurytmal als Mordwerkzeug nutzte, auf frischer Tat ertappt wurde.

Laut Schmidt zog die Medikamentenkommission allerdings die falschen Schlussfolgerungen aus der Entdeckung. Sie stufte das Herzmittel, das bislang nur auf Sonderanforderung zu bestellen war, zum Standardmedikament herab, um den Bestellvorgang zu vereinfachen – „aus ökonomischen Gründen“, so Schmidt. Gilurytmal galt als kostengünstiges Medikament. Högel konnte weitermorden.

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5. Prozesstag am 12. Dezember: Gedanken an Suizid

Einmal, so erzählt es Niels Högel am fünften Prozesstag, sei er in den Wald gefahren, um sich zu Tode zu trinken. Ein Freund habe ihn davon abgehalten. Seine Festnahme 2005 habe er als „eine Art Befreiung“ erlebt. „Ich war froh, dass es vorbei ist“, sagt er. Die erste Woche in der Haft habe er fast nur geschlafen. Auf die Frage von Richter Sebastian Bührmann, warum er nicht vorher aufgehört habe, antwortet Högel: „Es war automatisiert... so eine Art Routine.“

Am Ende des Tages hat ihn das Gericht mit allen 100 Mordvorwürfen konfrontiert. 43 Taten gibt Högel zu, fünf streitet er ab. An die übrigen 52 Patienten kann er sich angeblich nicht erinnern, er schließt eine Tat aber auch nicht aus.

Viele Widersprüche und Ungereimtheiten bleiben. Was man Niels Högel glauben darf, wird das Gericht sorgfältig prüfen müssen.

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4. Prozesstag am 11. Dezember: Vom Wunsch, ertappt zu werden

Högel überrascht mit der Aussage, er habe sich „gewünscht, erwischt zu werden“. Er sei im Lauf der Jahre immer mehr Risiken eingegangen, habe „Herausforderungen“ gesucht. Immer öfter habe er Patienten die tödliche Medikamenten-Überdosis gespritzt, wenn Kollegen am Bett standen.

Den Ex-Kollegen in Delmenhorst warf er indirekt vor, ihn nicht gestoppt zu haben. „Man hat ja gesehen, dass ich etwas injiziere, und unmittelbar danach tritt die Reanimationssituation ein“, sagt er vor Gericht. „Da hätte man ja schon den Zusammenhang herstellen können. Oder sogar müssen.“

Mit fortschreitender Dienstzeit verblasst offenbar seine Erinnerung an Taten und Patienten zunehmend. Konnte er sich bei den Vorwürfen, die seine Zeit im Klinikum Oldenburg betreffen, noch an 22 von 36 Fällen erinnern, ist es mit Blick auf die Zeit in Delmenhorst nicht einmal mehr ein Drittel.

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3. Prozesstag am 22. November: Högel bittet um Entschuldigung

Mucksmäuschenstill wird es im Gerichtssaal, als eine Rechtsanwältin dem Angeklagten ein Foto seines mutmaßlichen Opfers Bernhard Brinkers vorlegt. An den Fall des 63-Jährigen, der am 14. September 2001 im Klinikum Oldenburg nach einer Überdosis Lidocain starb, erinnert sich Högel offenbar nicht. Aber er richtet einige Worte an den Sohn des Verstorbenen: „Herr Brinkers, ich kann nichts gutmachen. Es ist schwer nachzuvollziehen, was passiert ist. Ich entschuldige mich in aller Form bei Ihnen.“

Es ist der dritte Verhandlungstag, das Gericht konfrontiert den Angeklagten weiter Fall für Fall mit den Mordvorwürfen. „Ich sitze hier aus voller Überzeugung, jedem einzelnen Angehörigen eine Antwort geben zu wollen“, beteuert Niels Högel.

Am Ende des Tages wird Högel sich insgesamt zu 50 toten Patienten geäußert haben, 26 „Manipulationen“ wird er zugegeben haben. Vier Taten streitet er ab, an die anderen Fälle erinnert er sich nicht, schließt eine Tat aber ausdrücklich nicht aus.

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2. Prozesstag am 21. November: Högel hat „Ekel“ vor sich selbst

Der Angeklagte hatte Hausaufgaben aufbekommen: Niels Högel sollte auf einem speziell gesicherten Laptop im Gefängnis die Krankenakten der ersten 30 toten Patienten aus der Anklageschrift durcharbeiten. Rechtsanwältin Gaby Lübben, die fast 100 Nebenkläger vertritt, fragt Högel, was er heute empfinde, wenn er die Krankenakten lese, wenn er sich an seine Taten erinnere. „Scham“, sagt Högel, „teilweise Ekel vor mir selbst. Und ein großes Fragezeichen.“ Dann sagt er erstmals: „Jeder einzelne Fall, auch wenn ich es lese, tut mir unendlich leid.“

26-mal wird der Richter Högel an diesem Tag fragen, ob er sich erinnern könne: an den jeweiligen Patienten, an die Krankheitsgeschichte, an eine Manipulation. „Manipulation“, so heißt hier vor Gericht der mutmaßliche Mord am Krankenbett. 15-mal wird Högel angeben, er erinnere sich, er habe manipuliert. In den meisten anderen Fällen kann oder will er sich nicht erinnern. Aber fast immer sagt er: „Ich kann es nicht ausschließen.“

Manchmal fällt ihm sogar ein Motiv ein für eine Tat. Er wollte mit seinen Reanimationsfähigkeiten eine spezielle Kollegin beeindrucken, sagt er einmal, „das war dieses Imponiergehabe gegenüber Schwester L.“.

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1. Prozesstag am 30. Oktober: Schweigeminute – Högel sagt aus

Ungewöhnlicher Beginn einer Gerichtsverhandlung: Richter Sebastian Bührmann lässt die Anwälte, Angehörigen, Zuschauer und Journalisten für eine Schweigeminute aufstehen. „Wir wollen an die denken, die auch im Raum sind, aber nicht körperlich“, sagt er. Dann spricht der Angeklagte: Niels Högel, der im Prozess 2014/15 bis zum Schluss geschwiegen hatte, äußert sich nun. Auf die Frage, ob die Tatvorwürfe größtenteils zutreffen, antwortet er knapp: „Ja“.

Zu den Hintergründen der Tat erklärt Högel, er habe von einer „elitären Gruppe“ von Pflegekräften auf der Intensivstation anerkannt werden wollen. Schon als Schüler habe er Krankenpfleger werden wollen, später im Beruf habe er unter dem hohen Druck gelitten. „Heute weiß ich: Ich hätte aufhören sollen, ich hätte gar nicht nach Oldenburg gehen sollen“, sagt er.

Ob Högels Aussagen stimmen, darf bezweifelt werden. „Was können wir Ihnen glauben?“, fragt Bührmann. Högel war nach früheren Vernehmungen und im ersten Prozess mehrfach der Lüge überführt worden.

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