Stuttgart/Oldenburg - Immer wieder nimmt Alexander Vorontsov einen gelben Tennisball aus seiner Bauchtasche und donnert ihn mit voller Wucht aufs Handballtor. Daniel Rebmann und Urh Kastelic versuchen, die fliegenden Kugeln abzuwehren. Den beiden Torhütern von Handball-Bundesligist Frisch Auf Göppingen rinnt der Schweiß von der Stirn. Bei Vorontsov blitzt ein Lächeln auf: „Wer die kleinen Bälle hält, hält die großen erst recht“, sagt er. In den Pausen greift der Torwarttrainer immer wieder korrigierend ein. „Sascha ist detailversessen, er achtet auf die Stellung von jedem einzelnen Finger“, sagt Rebmann – und ergänzt mit einem Lächeln: „Wenn man gut mitzieht, ist er ein sehr netter Mensch.“
Hart, aber herzlich
Hart, aber herzlich – so könnte man die Schule von Vorontsov bezeichnen. Er gehört zu den profiliertesten Torwart-Trainern der Welt. Der prominenteste Schützling seiner Laufbahn ist der Mann, auf den die Göppinger am Sonntag trafen: Johannes „Jogi“ Bitter vom TVB Stuttgart – und der in Oldenburg geborene Torhüter behielt beim 29:26 die Oberhand gegen seinen Lehrmeister.
Vorontsov deutet auf den schwarzen Korb, mit dem er die Filzkugeln einsammelt. „Den hat mir Jogi geschenkt“, sagt der 57-Jährige, der frühere Erstligatorwart von Poliot Tscheljabinsk (Russland), Lokomotive Travana (Slowakei) und Dukla Prag (Tschechien). Aktuell trainiert er den Nationalmannschaftskeeper nicht, doch mehrmals in der Woche haben sie Kontakt. Vorontsov ist Bitters Mentor. Sie sind Freunde. „Sascha hat alle meine privaten und sportlichen Höhen und Tiefen begleitet“, sagt Bitter: „Er ist so etwas wie meine Basis.“ Klar sei es wichtig gewesen, dass ihn der neue Bundestrainer Alfred Gislason 2003 beim SC Magdeburg ins kalte Wasser geworfen habe, „aber ohne Sascha wäre ich nie da, wo ich jetzt bin“, betont der 37-Jährige.
Um zu verstehen, woher diese innige Verbindung rührt, ist ein Rückblick ans Ende der 1990er Jahre fällig. Bei einem Probetraining für Nachwuchstorhüter in Varel (Kreis Friesland) stellte sich ein 15-jähriger, schon damals 1,90 Meter großer Schlaks, vor. „Knochen und Ohren standen vor mir“, sagt Vorontsov schmunzelnd. Der junge Mann machte keinen besonders sportlichen Eindruck. Doch Vorontsov, damals Torwart und Torwarttrainer beim Zweitligisten SG VTB/Altjührden, gab ihm eine Chance. Warum? Weil er spürte, dass dieser Rohdiamant cleverer war als Gleichaltrige, schneller lernte und alles gibt, um ein Ziel zu erreichen. Genau solche Typen reizen Vorontsov.
Er fühlt sich dann wie ein Künstler, der mit feinem Händchen etwas modelliert, um am Ende das perfekte Werk vor sich zu haben. „Für mich ist nicht entscheidend, ob der Spieler später Titel gewinnt, ich genieße den Prozess“, stellt der gebürtige Russe klar. Er bezeichnet das als egoistisch, doch letztlich profitieren von seiner Leidenschaft an der Arbeit die Torhüter. Die Niederländerin Tess Wester (Vorontsov: „Sie hat wie Jogi diese Kopf-durch-die-Wand-Mentalität“) beispielsweise hat er einst beim VfL Oldenburg zur Weltklasse-Torfrau entwickelt.
Zu keinem anderen Keeper hat Vorontsov aber einen solch engen Draht wie zu Jogi Bitter. Dass die beiden trotz des Altersunterschieds von 20 Jahren auf einer Wellenlänge liegen, hat sich einst bei einem Kaffeekränzchen herausgestellt. Vorontsovs damalige Frau, eine Musiklehrerin, hatte Bitters ehemaliger Freundin Bernadette Klavierunterricht gegeben und ihre Schülerin samt Freund zu sich und ihrem Mann nach Hause eingeladen. Aus den Gesprächen im Hause Vorontsov entwickelte sich dann eine sehr enge Freundschaft.
Kritik via Sprachnachricht
Dazu gehört auch, sich ungeschminkt die Meinung zu sagen. Das tut Vorontsov. Da kommt auch mal ein Rüffel via Sprachnachricht auf Bitters Handy. „Sascha ist kein Politiker, er ist als Mensch gradlinig und unbestechlich, immer fordernd, und bei seinen Einheiten muss man über die Grenzen hinausgehen“, erinnert sich Bitter.
Vorontsov hat einen festen Vertrag bei Frisch Auf Göppingen, nebenbei kümmert er sich einmal pro Woche auch um die Keeper des Bundesliga-Konkurrenten HBW Balingen-Weilstetten. Die Dienste Vorontsovs, der in seiner Freizeit gern historische Bücher und Filme anschaut sowie angelt, sind gefragt. Diese Hobbys verbinden ihn genauso wie das Geburtsdatum 7. September mit dem neuen Bundestrainer Alfred Gislason. Der wollte ihn einst als Torwarttrainer zum THW Kiel holen.
In der deutschen Nationalmannschaft kümmert sich künftig Mattias Andersson um die Torhüter. Der Schwede gilt als eine der wenigen Torwart-Trainer-Koryphäen der Branche. Wie auch Sascha Vorontsov, der Künstler für die Keeper, der Johannes Bitter zu einem Weltklasse-Torhüter machte.