Nanterre/Papenburg - Es gilt als das schlimmste Schiffsunglück der europäischen Nachkriegsgeschichte: Vor fast 25 Jahren sank die „Estonia“. In der Nacht zum 28. September 1994 kenterte die Ostseefähre bei der Überfahrt von Tallinn nach Stockholm. Die traurige Bilanz: 852 Tote – eine Katastrophe. Bis heute ist die Unglücksursache nicht abschließend geklärt. Ein französisches Gericht in Nanterre bei Paris prüft nun Entschädigungsansprüche von rund 1000 Überlebenden und Opferangehörigen – es geht um mehr als 40 Millionen Euro. Auch die Papenburger Meyer Werft ist betroffen. An diesem Freitag soll die Entscheidung fallen.

Die Kläger fordern von der französischen Prüfungsstelle Bureau Veritas, die ihren Sitz in Nanterre hat, und der Schiffsbauwerft Schadenersatz. Jahrelang zog sich das Verfahren durch die Instanzen. Das französische Gericht will nun über die Zulässigkeit und die Höhe der Ansprüche entscheiden. Die „Estonia“ war Anfang der 80er Jahre bei der Meyer Werft in Papenburg vom Stapel gelaufen, Bureau Veritas hatte das Schiff als seetüchtig eingestuft. Den Prozess in Paris werde die Meyer Werft nicht kommentieren, sagte ein Unternehmenssprecher.

Um das Unglück ranken sich diverse Mythen, es wird über die Ursache der Tragödie in der Ostsee spekuliert. So viel ist klar: Die Ostseefähre sank bei stürmischer See vor der Südküste Finnlands. Die Stockholmer Staatsanwaltschaft hatte 1998 alle Ermittlungen zur Klärung der Schuldfrage ergebnislos eingestellt. Unstrittig ist, dass die Bugklappe des Schiffs sich auf offener See öffnete und abriss. Unmengen von Wasser strömten schnell und ungehindert ins Autodeck. Nur 137 Menschen wurden lebend geborgen, 49 tot. Hunderte Tote blieben im Schiffsinneren eingeschlossen.

Die „Estonia“ liegt bis heute auf dem Grund und wurde nie gehoben – sie ist zum Grab für die meisten ihrer Passagiere geworden. In den Jahren nach der Tragödie gab es ein Hickhack diverser Untersuchungskommissionen. Experten aus Estland, Finnland und Schweden kamen 1997 zu dem Ergebnis, dass ein Konstruktionsfehler an der Bug­klappe vorlag – die Fähre sei gar nicht für die einwirkenden Kräfte ausgelegt gewesen.

Die Schließvorrichtungen sind dem Bericht zufolge viel zu schwach gewesen – unter dem Druck der Wellen gaben sie nach. Die ungewöhnlich raue See an diesem Abend sei die denkbar schlechteste Situation für das Schiff gewesen.

Eine von der Meyer Werft eingesetzte Untersuchungskommission sieht das anders. Sie macht die Besatzung und die estnische Reederei für die Katastrophe verantwortlich. Das Schiff sei nicht seetüchtig gewesen, als es den Hafen von Tallinn verlassen hatte, so die Experten. Die Gründe dafür seien fahrlässige Inspektionen und rücksichtsloser Betrieb des Schiffs.

Die „Estonia“ wurde Ende der 90er Jahre per Gesetz zur Grabstätte – Opferverbände forderten immer wieder, das Schiff zu heben. Aber nur der vordere Teil wurde geborgen. Trotz Sperrzone machten Privatermittler Aufnahmen von dem Wrack. Es halten sich Spekulationen, dass es an Bord eine Explosion gegeben habe. Sie soll ein Loch in den Bug der Fähre gerissen haben. Diese Explosion soll im Zusammenhang mit streng geheimen militärischen Transporten auf dem Schiff stehen, so die Theorie. Behörden und Experten wiesen dies immer wieder zurück. Schließlich bestätigte eine Untersuchung im Auftrag der schwedischen Regierung zwei militärische Geheimtransporte auf der „Estonia“ zumindest einige Tage vor der Katastrophe. Es habe sich aber nicht um explosives Material gehandelt, hieß es. Die Spekulationen befeuerte es dennoch.

Die Reederei Estline zahlte damals eine einmalige Opferentschädigung. Die Überlebenden und Opferangehörigen klagen nun in dem Zivilprozess in Frankreich auf sogenannten psychischen Schaden.